Prämienbelastung der Schweizer Haushalte – die aktuellsten Zahlen

Wie entwickelt sich die Prämienbelastung der Haushalte?

FMH
Ausgabe
2020/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19207
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(38):1174-1180

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin des Präsidenten; b Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 15.09.2020

Die Entwicklung der Krankenkassenprämien wird häufig als unmittelbare Be­drohung für die Haushalte und die Bezahlbarkeit unseres Gesundheitswesens ­dargestellt – nicht selten, um für eigene politische Vorhaben zu werben. Tatsächlich haben sich die Prämien seit 1996 mehr als verdoppelt. Fakt ist aber auch, dass der Einkommenszuwachs den Prämienzuwachs deutlich übersteigt und der Prä­mienanstieg seit über 10 Jahren abflacht.
Die Entwicklung der Prämien seit Einführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wird häufig mit bedrohlichen Metaphern beschrieben – nicht selten, um die Notwendigkeit verschiedener politischer Vorhaben zu unterstreichen. «In den letzten 20 Jahren sind die Prämien im Vergleich zu den Löhnen und Renten geradezu explodiert», begründet die SP ihre Prämien­initiative [1]. Auch die CVP diagnostiziert eine «Prä­mien­explosion»: «Seit Jahren steigen die Krankenkassen­prämien jährlich um rund 5% und reissen ein immer grösseres Loch in unser Budget» [2]. Ihre Initiative soll darum «das Gesundheitswesen retten» [2]. Ähnlich beunruhigend klingt es aus dem BAG: «Wenn wir jetzt nichts Entscheidendes unternehmen, besteht die Gefahr, dass wir unser Gesundheitssystem an die Wand fahren» [3]. Die Massnahmen des Bundesrats sollten in dieser Situation «Luft schaffen» [3].
Dass uns die Luft ausgeht, deutet auch die SAMW an, wenn sie die Prämienentwicklung mit der Bedrohung unserer Ökosysteme vergleicht: Es sei «wie beim Klimaschutz: Alle wissen darum, niemand tut etwas ...» Es spiele darum auch «keine grosse Rolle, was zuerst verändert wird. Hauptsache, wir tun etwas» [4]. Zur Veranschaulichung reiche «der Vergleich der eigenen Krankenversicherungsprämie heute mit jener vor zehn Jahren. Der Kostenanstieg kann nicht so weitergehen» [5]. Es stellt sich also die Frage: Steigt die Belastung durch Prämien tatsächlich so stark an, dass nur noch schnelle und einschneidende Massnahmen unser ­Gesundheitswesen «vor dem Grounding» [6] retten können?

Baumol: Steigende Gesundheitskosten sind tragbar – ­wenn die Lastenverteilung stimmt

Dass die Ausgaben für die Gesundheit wachsen und gleichzeitig der Sparbetrag steigt, lässt an den Baumol-Effekt denken [10]: Dieser ökonomische Effekt beschreibt den Umstand, dass personenbezogene Dienstleistungen wie ein Arzt-Patienten-Gespräch oder die Ernährung ­eines Pflegebedürftigen kaum Produktivitätsfortschritt aufweisen, während die Arbeitsproduktivität insbesondere im produzierenden Gewerbe deutlich wächst. Da die Löhne aber in allen Sektoren ähnlich steigen, müssen Dienstleistungen im Verhältnis zu Industriegütern langfristig teurer werden. Die dienstleistungsintensive Gesundheitsversorgung bleibt für die Konsumenten jedoch grundsätzlich erschwinglich, «da ihr Einkommen steigt und die Preise, die sie für Industriegüter bezahlen müssen, relativ sinken» [10].
Was «im Durchschnitt» zutrifft, geht jedoch an der Lebensrealität einkommensschwacher Haushalte vorbei, wenn Einkommenszuwächse ungleich verteilt sind. Aus der baumolschen Theorie folgt darum, dass die Lastenverteilung angegangen werden muss. Kostendeckel oder ähnliche Weichenstellungen, die eine solida­rische Gesundheitsversorgung beschneiden, wären hingegen nicht zielführend und besonders für die unteren Einkommensgruppen von Nachteil [10].

Der Anstieg der mittleren Prämien flacht seit über 10 Jahren ab

Als im Jahr 1996 das Krankenversicherungsgesetz (KVG) eingeführt wurde, bezahlten die Versicherten an die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) eine mittlere jährliche Prämie von 1539 Franken [7]. In den folgenden 23 Jahren bis 2019 stieg diese mittlere Prämie jahresdurchschnittlich um 4% an, wobei der Prämienzuwachs über die Zeit abflachte: Im ersten Jahrzehnt nach Einführung des KVG stiegen die Prämien noch durchschnittlich um 5,3%, in den folgenden zehn Jahren dann «nur» noch um 2,9% pro Jahr. Auch die letzten in der Statistik verfügbaren Jahrgänge 2017 bis 2019 weisen mit durchschnittlich 3,1% einen deutlich moderateren Prämienanstieg auf als die Anfangsjahre. Dennoch hatte sich 2019 die mittlere ­OKP-­
Jahresprämie mit 3772 Franken verglichen mit dem Jahr 1996 mehr als verdoppelt.
Neben der Höhe der OKP-Prämien wuchs auch ihre ­Bedeutung in der Finanzierung des Gesundheitswesens. Während die OKP im Jahr 1996 noch 30% der Gesundheitskosten [8] finanzierte, waren es in den letzten Jahren 37% des Gesundheitswesens. Eine geringere Rolle in der Finanzierung des Gesundheitswesens spielen heute hingegen die Selbstzahlungen, deren Finanzierungsanteil sich im gleichen Zeitraum von 31 auf 26% reduziert hat. Auch der Anteil der Privatversiche­rungen sank von 11 auf 7%.

Der Einkommenszuwachs übersteigt die Prämienerhöhung deutlich

Um einschätzen zu können, inwieweit der Prämien­anstieg die Versicherten belastet, muss zwangsläufig auch die Entwicklung der Einkommen betrachtet werden. Das Bundesamt für Statistik weist für das Jahr 1996 ein «Gesamtes Einkommen pro Kopf» von 58 279 Franken aus, im Jahr 2018 lag es bei 79 044 Franken. Während die mittlere OKP-Prämie zwischen 1996 und 2018 von 1539 auf 3735 Franken um 143% anstieg, wuchs das Einkommen also um 36% von 58 279 auf 79 044 Franken. Was in Prozent ausgedrückt dramatisch klingt und suggeriert, die Prämienzuwächse würden die Lohnzuwächse übertreffen, sieht bei Betrachtung der absoluten Zahlen anders aus: Ein Prämienanstieg von 2196 Franken steht einem Einkommenszuwachs von 20 765 im selben Zeitraum gegenüber [9].

1998 gaben die Haushalte 4,3% 
ihres Budgets für Prämien aus – 
2017 waren es 6,5%

Durch die Zuwächse der OKP-Prämien einerseits und der Einkommen andererseits stieg der Anteil des Bruttoeinkommens, den Schweizer Haushalte für die ­Prämien ausgaben, von 4,3% im Jahr 1998 auf 6,5% im Jahr 2017 (Abb. 1). Die Prämienentwicklung wirkte sich in den verschiedenen Einkommensgruppen aller­dings sehr unterschiedlich aus: Während sich die Belastung durch Prämienzahlungen im einkommensschwächsten Fünftel der Haushalte von 9,3 auf 14,1% steigerte, wuchs sie beim finanzkräftigsten Fünftel von 2,4 auf 3,9% an. Die gestiegene Belastung der einkommensschwächsten Haushalte durch die Prä­mienzahlungen relativiert sich jedoch etwas, wenn man das Gesamt der obligatorischen Abgaben betrachtet (Abb. 2). Die Gesamtheit der Abgaben wuchs für das einkommensschwächste Fünftel der Haushalte von 25,4 auf 29,2%, für das wohlhabendste Fünftel von 28,4 auf 31,0%. Dass die OKP-Prämien für Haushalte mit kleinen Einkommen heute stärker ins Gewicht fallen, wird durch geringere prozentuale Ausgaben für die Sozialversicherung teilweise kompensiert.
Abbildung 1: Entwicklung der OKP-Prämien und obligatorischen Abgaben* in Franken und im Verhältnis zum Bruttohaushaltseinkommen (farbig hinterlegte Angaben in Prozent). (Quelle: Haushaltsbudgeterhebung, Bundesamt für Statistik)
* Steuern, Sozialversicherungen, OKP-Prämien und Transferzahlungen an andere Haushalte.
Abbildung 2: Entwicklung der obligatorischen Ausgaben nach Einkommensquintilen, in % des Bruttohaushaltseinkommens.
(Quelle: Haushaltsbudgeterhebung, Bundesamt für Statistik)

Wir bezahlen mehr für die Gesundheit – und haben trotzdem mehr Geld übrig

Was passiert also, wenn ein «Durchschnittshaushalt» der eingangs zitierten Aufforderung der SAMW nachkommt, die eigenen Ausgaben für die Grundversicherung mit denen von vor zehn Jahren zu vergleichen? Er wird feststellen, dass die Prämienzahlungen im Jahr 2017 etwa 1% mehr des Haushaltsbudgets beanspruchten, als dies 2007 der Fall war. Die Entwicklung des Sparbetrags lässt dabei vermuten, dass dies vielen Haushalten keine grösseren Schmerzen bereiten dürfte: Legte der «Durchschnittshaushalt» 2007 noch mit monatlich 875 Franken 9,6% seines Bruttoeinkommens zurück, waren es im Jahr 2017 bereits 1428 Franken – und damit 14,4% des Bruttoeinkommens. Im gleichen Zeitraum, in dem die Prämienausgaben des Durchschnittshaushalts um 156 Franken und damit 32% wuchsen, stieg der Sparbetrag folglich um 553 Franken und damit 63%.

Warum die lange kommunizierte ­Standardprämie den Prämienzuwachs überschätzt

Die mittlere Prämie entspricht dem Durchschnitt der in der Schweiz effektiv bezahlten Prämien. Die bis 2017 in der Kommunikation des Bundes genannte Standardprämie betrifft hingegen ausschliesslich Erwachsene im Standardmodell mit ordentlicher Franchise und Unfalldeckung. Versicherte mit ordentlicher Franchise waren jedoch bereits seit 2001 mit 45% die Minderheit [11]. Als das BAG im Jahr 2017 letztmalig die Standardprämie kommunizierte, hatte zudem die Beliebtheit alternativer Versicherungsmodelle stark zugenommen, so dass nur noch 17,5% im Standardmodell versichert waren [12].
Die kommunizierte Prämienerhöhung übertraf die reale Prämienerhöhung aber nicht nur, weil die Standardprämie stärker stieg als die Prämien der übrigen Versicherungsmodelle. Da die Versicherten erst nach der Prämienkommunikation ihre Versicherung für das folgende Jahr festlegen, können sie durch ihr Marktverhalten das angekündigte Prämienwachstum deutlich abfangen [13]. Nach Berechnungen der Helsana machte 1996 «die durchschnittliche zu bezahlende pro-Kopf-Prämie rund 74 Prozent des zunächst kommunizierten Prämientarifes aus. 2016 waren es noch 67 Prozent» [13].
Die Helsana empfahl darum im April 2018, «die Prämienkommunikation differenzierter anzugehen»: Nur die Standardprämie ­heranzuziehen habe «einen Hauch von Fehlinformation» [14]. Seit Herbst 2018 zieht das BAG in seiner Kommunikation nun die mittlere Prämie heran.

Es braucht eine differenzierte Prämiendiskussion für zielführende Massnahmen

Die hier präsentierten Zahlen können einige in der Prämiendiskussion vorgebrachte Argumente korri­gieren: So ist die Behauptung der CVP eines langfristigen jährlichen Prämienzuwachses von fünf Prozent schlicht falsch. Vor allem zeigen die Zahlen jedoch den Kontext einiger Aussagen auf: Es ist wahr, dass sich die mittlere Prämie seit Einführung des Krankenversicherungsgesetzes mehr als verdoppelt hat. Es ist ebenfalls wahr, dass die Prämiensteigerung höher war als der Einkommenszuwachs – allerdings ausschliesslich dann, wenn man diese Entwicklung in Prozent ausdrückt. An den absoluten Zahlen lässt sich hingegen klar ein Wohlstandsgewinn ablesen, und auch bei ­einem Blick auf die Haushaltsbudgets stellt sich die ­Situation sehr viel positiver dar.
Die Ausgaben für die Grundversicherung sind innerhalb von knapp 20 Jahren von 4,3 auf 6,5% des Haushaltseinkommens gestiegen – eine solche Entwicklung dürften die wenigsten Menschen spontan mit einer «Prämienexplosion» assoziieren. Auch dass das Prä­mienwachstum im letzten Jahrzehnt klar abgeflacht und der Sparbetrag der Haushalte deutlich gestiegen ist, lässt sich schwer mit der Behauptung eines steilen Prämienanstiegs vereinbaren, der zur Unbezahlbarkeit der Grundversicherung führe.
Zweifelsohne verdienen nicht nur explosionsartig, sondern bereits stetig ansteigende OKP-Prämien unsere Aufmerksamkeit. Insbesondere für die Prämienlast einkommensschwacher Haushalte braucht es ­Lösungen. Wirksame Antworten wie zielgenaue Prä­mienverbilligungen, die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen sowie nachhaltige Lösungen für eine gute Altersvorsorge haben wir bereits an anderer Stelle ausgeführt [15]. Gegenüber politischen Forderungen, denen mit Drohkulissen und Übertreibungen Nachdruck verliehen wird, ist hin­gegen Skepsis angebracht: Wer undifferenziert Dia­gnosen stellt, hat vermutlich auch keine passgenaue Therapie.
Dr. phil. Nora Wille
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 4 Scheidegger D. Wie beim Klimaschutz: Alle wissen darum, ­niemand tut etwas ... SAMW-Bulletin 01/2019; S. 2.
 6 «Das Gesundheitswesen ist wie die Swissair vor dem Grounding.» NZZ, 27.11.2017.