Aktualisierte Charta Interprofessionalität der SAMW

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2020/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19214
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(39):1220-1221

Affiliations
Generalsekretärin der SAMW

Publiziert am 22.09.2020

Überzeugt, dass die gelingende interprofessionelle Zusammenarbeit (IPZ) immer mehr zum Erfolgsfaktor im Gesundheitswesen wird, fördert die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) diese Entwicklungen in vielfältiger Weise. Bereits 2014 hat sie die Charta «Zusammenarbeit der Fachleute im Gesundheitswesen» veröffentlicht und legt nun mit der Charta 2.0 eine aktualisierte Version vor.
Seit der Erstveröffentlichung der Charta 2014 wurden in der Schweiz zahlreiche Initiativen und Projekte zur interprofessionellen Zusammenarbeit und interprofessionellen Bildung lanciert und erfolgreich umgesetzt. Um diese erfreuliche Entwicklung zu unterstützen, hat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Manuela Eicher und PD Dr. Peter Berchtold die Charta überarbeitet und dem neuen Wissensstand sowie den veränderten Verhältnissen angepasst. Denn auch die Covid-19-Pandemie macht deutlich: Interprofessionelle Zusammenarbeit ist wichtig und braucht differenzierte, Setting-spezifische Förderung.
Die Charta 2.0 ist wie ihre Vorgängerin das Ergebnis eine­s Konsenses. Sie ist keine Richtlinie, sondern vielmehr eine Absichtserklärung bzw. ein Orientierungspunkt für Gesundheitsfachpersonen. So beschreibt die Charta das heutige Verständnis von IPZ, formuliert Prinzipien, Kernelemente und Verpflichtungen aller Beteiligten für eine gelingende interprofessionelle Zusammenarbeit. Mit der Charta richtet sich die SAMW an die in der Gesundheitsversorgung aktiven Fachleute, Berufsverbände und Institutionen.

Auszug aus der Charta 2.0: ­Kernelemente und Verpflichtungen

1. Betroffene und Angehörige sind in 
die ­interprofessionelle Zusammenarbeit ­partnerschaftlich eingebunden.

Der geltende gesetzliche Rahmen (insbesondere das Erwachsenenschutzrecht) setzt die informierte Zustimmung der Betroffenen zu sämtlichen medizinischen Massnahmen voraus. Patientinnen und Patienten oder gegebenenfalls ihre Angehörigen sollen deshalb eine aktive Rolle im Gesundheitswesen einnehmen und sich an Entscheidungen zu Behandlung und Betreuung beteiligen. Als «Experten in eigener Sache» können sie – soweit fähig und kompetent – die Behandlungsqualität und das Gesamtergebnis beeinflussen.

2. Interprofessionelle Zusammenarbeit zielt auf den Nutzen für Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen.

Interprofessionelle Zusammenarbeit bedeutet Mehraufwand für alle beteiligten Fachpersonen. Dieser ist jedoch gerechtfertigt, wenn damit die Versorgungsqualität verbessert werden kann. Im Hinblick darauf bieten sich PREMs (Patient-Reported Experience Measures) und PROMs (Patient-Reported Outcome Measures) an; diese können die Patientenerfahrungen und den selbsteingeschätzten Gesundheitszustand als Feedback und Quelle für Prozessverbesserungen zugänglich machen.

3. Die interprofessionelle Entscheidungsfindung ist zentraler Bestandteil der interprofessionellen Zusammenarbeit. Sie erlaubt eine integrierte Versorgung und ist entsprechend koordiniert.

Bei komplexen klinischen Situationen ist eine gemeinsame Entscheidungsfindung unumgänglich. Der inte­grierte Zugriff auf sämtliche Informationen, z.B. durch digitale Dokumentations- und Entscheidungshilfen, trägt dazu bei, ein gemeinsames Verständnis einer Patienten- und Angehörigensituation zu entwickeln. Erst dieses gemeinsame Verständnis erlaubt die Planung und Durchführung interprofessionell abgestimmter Handlungen.

4. Die Übernahme von Verantwortung orientiert sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen und an den benötigten fachlichen Kompetenzen.

Die Gesundheitsfachleute sind entsprechend ihren spezifischen Kompetenzen und Fähigkeiten tätig und tragen die Verantwortung für ihr Handeln. Die Übernahme von Verantwortung durch verschiedene Gesundheitsfachleute bedingt einen zusätzlichen Organisationsaufwand und klare Rollenbeschreibungen, die den Aufgabenbereich definieren.

5. Interprofessionelle Zusammenarbeit ­orientiert sich am Behandlungs- und ­Betreuungssetting.

Interprofessionelle Zusammenarbeit ist ein Mittel für spezifische Probleme in der Behandlung und Betreuung und ergänzt die professionelle Praxis. Sie kann vielfältige Formen annehmen; diese sind wesentlich durch das Versorgungssetting und die Art der Krankheit oder Beeinträchtigung geprägt. Diese Unterschiede sind für die konkrete interprofessionelle Zusammenarbeit zu berücksichtigen.

6. Die Berufs- und Fachverbände fördern eine Kultur der interprofessionellen ­Zusammenarbeit.

Empfehlungen an die Praxis (z.B. in Form von Leit­linien), Aus- und Weiterbildung, Forschung und ­politische Meinungsbildung fördern die Weiter­ent­wicklung und damit die Kultur der interprofessionellen Zusammenarbeit. Berufs- und Fachverbände haben eine wichtige Rolle inne, indem sie gemeinsame Veranstaltungen durchführen, in interpro­fessionell zusammengesetzten Fachgremien tagen und Vernehmlassungsprozesse interprofessionell abstimmen.

7. Eine gelingende interprofessionelle 
Zusammenarbeit basiert auf der Vermittlung interprofessioneller Kompetenzen in Aus-, Weiter- und Fortbildung.

Die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Gesundheitsfachleute umfasst die notwendigen kooperativen Elemente. In gemeinsamen Modulen mit interaktiven Lernsequenzen werden allen Gesundheitsfachleuten ergänzend zu den jeweiligen spezifischen Kenntnissen berufsübergreifende Grundelemente vermittelt. Dies sind z.B. Kommunikation, Ethik, Gesundheitsökonomie und -politik sowie Prinzipien der interprofessionellen Zusammenarbeit wie Patientenzentrierung, Erkennen professionsspezifischer Grenzen oder Verbesserung der Betreuungskoordination. Im Sinne eines lebenslangen Lernens besuchen alle Gesundheitsfachleute regelmässig auch Veranstaltungen, die interprofessionelle Kompetenzen fördern und die kooperative Berufspraxis reflektieren.

8. Interprofessionelle Zusammenarbeit und integrierte Behandlung und Betreuung gehören zusammen.

Viele Faktoren, die das Gelingen der interprofessionellen Zusammenarbeit unterstützen, tragen gleichzeitig zu eine­r gelingenden integrierten Versorgung bei: offene Kommunikation; gegenseitiges Vertrauen und Respekt; das Kennen aller am Versorgungsprozess beteiligten Personen und deren Rollen; Klärung der Machtverhältnisse und Entscheidungsbefugnisse; eine auf Zusammenarbeit ausgerichtete Arbeitsumgebung; konsequente Ausrichtung an personenzentrierter Versorgung etc.

9. Interprofessionalität ist eine Leitungsaufgabe.

Die Führungspersonen und -gremien von Gesundheitseinrichtungen sind verantwortlich für den anzustrebenden Kulturwandel. Sie fördern eine Kultur der Interprofessionalität und setzen diese im Rahmen ihrer strategischen, finanziellen und personellen Entscheide um. Dabei sollen sie den gesetzlichen, finanziellen und tariflichen Rahmen bestmöglich ausschöpfen.

10. Die Berufsverbände setzen sich gemeinsam für geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen und Anreize zur Förderung der Interprofessionalität ein.

Die interprofessionelle Aus- und Weiterbildung und die Zusammenarbeit sollten auf gesetzlichen Grundlagen beruhen und durch finanzielle Anreize unterstützt werden. Damit wird gewährleistet, dass Interprofessionalität nicht nur auf den guten Willen der beteiligten Akteure angewiesen ist. Die Aus- und Weiterbildungsgänge sind evidenz­basiert und folgen zeitgemässen didaktischen Standards.

Das Wichtigste in Kürze:

• Gelingende interprofessionelle Zusammenarbeit (IPZ) gilt als Erfolgs­faktor im Gesundheitswesen.
• In den letzten Jahren wurden in der Schweiz zahlreiche Initiativen und Projekte zur IPZ umgesetzt; die aktualisierte Charta 2.0 der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) baut auf diesen Entwicklungen auf.
• Die Charta 2.0 bietet Orientierung für Gesundheitsfachleute und schafft die Basis für den weiterhin anzustrebenden Kulturwandel.
• Mehr zum Thema finden Sie auf samw.ch/interprofessionalitaet
Die Charta ist deutsch, französisch und italienisch kostenlos als gedruckte Broschüre oder elektronisch erhältlich: samw.ch/empfehlungen
Valérie Clerc
Generalsekretärin SAMW
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v.clerc[at]samw.ch