Im Zeitalter von «Genomics»

Macht die Familienanamnese bei Brustkrebs noch Sinn?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19245
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(42):1382

Affiliations
Prof. em. für Medizinische Genetik, Universität Basel

Publiziert am 13.10.2020

Gemäss der amerikanischen Gesellschaft der Brustchirurgen (ASBrS) sollten alle Personen mit Brustkrebs mittels Genpaneltests abgeklärt werden. Diese Empfehlung basiert auf einer Studie [1], bei der pathogene oder möglicherweise pathogene Mutationen einer Reihe von zu Krebs prädisponierenden Genen bei gut 9% der Patientinnen nachgewiesen wurden, die dafür die Indikationen der Richtlinien des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) für Brustkrebsveranlagungen erfüllten, jedoch auch bei knapp 8% der Probandinnen, bei denen dies nicht der Fall war. Lohnt sich unter solchen Voraussetzungen der Aufwand einer Stammbaumerhebung noch?
Veranlagungen für Krebskrankheiten gehören immer noch zu den dynamischen Bereichen der medizinischen Forschung. Der Nachweis einer solchen ist nicht nur für angemessene Behandlungs- und Präventionsmassnahmen, sondern auch für die Angehörigen der Betroffenen von Relevanz. Brustkrebs-Genpanels mit unterschiedlichen Spektren der analysierten Gene, wie sie heute angeboten werden, garantieren aber keineswegs ein sinnvolles Erfassen aller möglichen Veranlagungen [2]. Es fehlen breit akzeptierte Richtlinien, welche Gene unter welchen klinischen und familiären Umständen und mit welchen Methoden analysiert werden sollten. Die Familienana­mnese stellt in solchen Situationen einen wertvollen Ausgangspunkt dar. Genpanels können bei Frauen angezeigt sein, bei denen die Analyse der BRCA1/2-Gene keinen pathogenen Befund ergab. Zu weiteren Kandi­datengenen gehören, falls mutiert, solche mit einem hohen (CDH1 und PALB2) und andere mit einem mässig erhöhten Brustkrebsrisiko (beispielsweise ATM, CHEK2). Aus der Familienanamnese ergeben sich zudem Hinweise auf das Vorliegen von Brustkrebs begünstigenden Varianten des TP53-Gens (Li-Fraumeni-Syndrom), des PTEN-Gens (Cowden-Syndrom), des CDH1-Gens (heredi­täres diffuses Magenkarzinom) oder des STK11-Gens (Peutz-Jeghers-Syndrom). Die Familienanamnese sowie die Abklärung von ebenfalls betroffenen Angehörigen erleichtern zudem die Interpretation von zunächst noch unklaren molekulargenetischen Befunden (VUS = Variants of Unkown clinical Significance).
Genetische Tests sollten grundsätzlich von einer genetischen Beratung begleitet werden. Das Erheben der ­Familienanamnese gehört dazu, was sich als gute ­Gelegenheit anbietet, um mit Ratsuchenden in ein vertrauliches Gespräch zu kommen und um dabei mehr über bedeutungsvolle psychosoziale Aspekte zu erfahren. Zur Selbsterhebung eines Stammbaums stehen Vorlagen im Internet zur Verfügung [3]. Eine entsprechend instruierte «Breast Care Nurse» kann die Patientinnen oder deren Angehörige beim Zusammenstellen der Familien­anamnese und der Konstruktion des Stammbaums wirkungsvoll unterstützen.
Interdisziplinarität ist bei der genetischen Diagnose von Brustkrebsveranlagungen oft angezeigt. Fachärztinnen und -ärzte mit einer Weiterbildung im Bereich der genetischen Beratung und Diagnostik können ihre Patientinnen und Patienten diesbezüglich informieren und mit ihrer Zustimmung entsprechende Abklärungen veranlassen. Sind die Individual- und Familiengeschichte und/oder die Ergebnisse der Genpaneltests komplex, so sollten an grösseren Spitälern und Brustzentren analog zu den Tumorboards regelmässig «Genetik-Boards» stattfinden, an denen Laborspezialistinnen, Medizinische Genetiker und die für die Betreuung der Betroffenen zuständigen Fachärztinnen und -ärzte sich gemeinsam über die Risikosituation und über angemessene medizinische Massnahmen beraten können. Solche Genetik-Boards sind zudem eine gute Gelegenheit zur Weiter- und Fortbildung in Fragen der medizinischen Genetik.
hansjakob.mueller[at]unibas.ch
1 Beitsch PD, et al. J Clin Oncol. 2019;37:453–46.
2 Robson M, Domchek S. JAMA Oncol. 2019;5:1687–8.
3 unispital-basel.ch/medizinische-genetik (Reiter: «Formulare Medizinische Genetik»).