Die Zeiten ändern sich – und wir ändern uns in ihnen (Ovid)

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19247
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(40):1266

Publiziert am 29.09.2020

Die Zeiten ändern sich – und wir ändern uns in ihnen (Ovid)

Lieber Hans Stalder,
Dein «Zu guter Letzt» über «Die Zeit der Alten» zeigt exemplarisch, wie sich Begriffe oft in kürzester Zeit ändern können, und wie wir uns in dieser Zeit ebenfalls ändern. Vor bald 60 Jahren spazierte ich als Student am Abend oft mit meinem Grossvater Otto in der Elfenau in Bern zu den uralten Eichen mit Blick auf die Berner Alpen. Otto war Notar und begeisterter Alpinist. Er erzählte von früheren Bergtouren, die Besteigung eines Walliser 4000ers war damals eine eigentliche Expedition, aber Otto nahm sich eine Woche Zeit. Die Fahrt nach Sitten oder Siders dauerte einen halben Tag, der Anmarsch bis ins Biwak zwei Tage. SAC-Hütten gab es erst wenige, übernachtet wurde in Geissen-Ställen oder unter einer grossen Felsplatte. Jahre vergingen, bis Otto gestand, dass die Abstiege von fast 4000 Metern wohl für seine Hüfte nicht ideal seien. Der Hausarzt stellte eine Hüft-Arthrose fest, der «Hüftgelenk-Karajan» Maurice Müller sagte, das könne man operieren. Otto meinte: «Können heisst nicht müssen», er wandte sich der Kultur zu und besuchte zusammen mit der Grossmutter regelmässig Opern, doch mit Mass: Vom zweiten Akt der langen Wagner- und Verdi-Opern hatte er keine Ahnung, weil er diese Zeit im «Café Ringgenberg» beim Abendessen verbrachte. Nach einigen Jahren gingen die Schmerzen in der Hüfte spontan zurück, die Hüfte war steif.
Otto war und bleibt bezüglich Zeit-Management im Alter für mich ein grosses Vorbild. Es geht vorerst darum zu akzeptieren, dass man nicht mehr 20 oder 30, sondern 60 oder 80 Jahre alt ist. Vielen Zeitgenossen fällt dies überaus schwer, sie klammern sich krampfhaft an die 10 000 Schritte täglich und andere körperliche oder geistige Fitness-Normen, sehr oft unter Zeitdruck. Ob sie glücklicher sind, muss man oft bezweifeln.
Auch Ottos Grundsatz, dass man nicht alles tun muss, was man tun könnte, hat mir (und früher vielen Patienten) oft geholfen. Wie­der­um spielt die Zeit eine grosse Rolle: Ein Problem zu überschlafen braucht zwar 8 Stunden, spart aber oft sehr viel Zeit, Schmerzen, Angst und Geld.