Von der Feuerwehr zum Intervention Management System

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2020/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19257
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(44):1453-1457

Affiliations
a Dr. med., MBA, Vorstand AeG BL; b Dr. med., Präsident AeG BL; c Dr. Phil II, Leiter Amt für Gesundheit BL; d Dr.med., ärztlicher Leiter Abklärungsstation; Dr. Phil, Leiterin Abt. Gesundheitsprävention BL; f Leitende MPA, Abklärungsstation BL; g Leiter Lehrgänge & Kurse, FD ZS KKS; h Dr. med , Dr. med. dent., Präsident VSAO BS, Leiter Begleitforschung IMS BL

Publiziert am 27.10.2020

Überführung von Strukturen und Erfahrungen aus dem Krisenmanagement der ersten COVID-19-Welle in ein nachhaltiges Intervention Management System im Kanton Basel-Landschaft (BL) zur Bewältigung der laufenden und kommender Epidemien und Pandemien: Ein Modell für alle Kantone?
Zur Bewältigung der ersten COVID-19-Welle mit Beginn Ende Februar 2020 haben die meisten Kantone notfallmässig zusätzliche Strukturen für die Bewältigung der Pandemie aufgebaut. Dies war nach dem Ausrufen der ausserordentlichen Lage, Epidemiengesetz CH, (EpG) [1] durch den Bund nur möglich durch die Bereitstellung grosser zusätzlicher finanzieller und personeller Ressourcen und Einschränkungen im öffentlichen sowie im privaten Leben. Für die meisten Akteure kam das Ausmass dieser Pandemie überraschend.
Kaum waren die täglichen kantonalen Ansteckungszahlen wieder im einstelligen Bereich, haben viele Kantone die «Krisen-Strukturen» wieder in die normalen, vorbestehenden administrativen Organisationen zurückgeführt. Der Kanton Basel-Land hat sich überlegt, welche Strukturen er zukünftig braucht, um eine zweite Welle rechtzeitig zu erkennen und die nötigen Massnahmen zeitgerecht einzuleiten. Als Grundlage diente dazu das von der WHO zum 100-Jahr-Jubiläum der Spanischen Grippe veröffentlichte Handbuch «Managing epidemics»[2]. Es soll Regierungen unterstützen, mittels einem «Incident Management System» (IMS) effiziente Strukturen aufzubauen, um bei Epidemien zeitgerecht reagieren zu können [3].
Von 2011 bis 2017 gab es weltweit 1307 epidemische Ausbrüche in 172 Ländern, das sind zirka 200 pro Jahr. Diese Ausbrüche haben durch die Globalisierung ein grosses Risiko, sich schnell zu verbreiten. Welche sozioökonomischen Schäden damit verbunden sein können, erleben wir gerade mit der COVID-19-Pandemie.
Dies zeigt klar auf, dass eine Struktur zur Bewältigung der Herausforderungen nicht nur für die aktuelle Sars-CoV2-Pandemie, sondern auch für zukünftige Epidemien/Pandemien notwendig ist.

Rückblick

Nach Ausrufung der Notlage durch den Kanton BL am 15.3.2020 hatte der kantonale Krisenstab, im Auftrag und unter Aufsicht der Regierung, die Führungsrolle in der Pandemie inne.
Der Krisenstab hat in kürzester Zeit eine mobile Einheit sowie zwei Abklärungs-Stationen in Münchenstein und Lausen aufgebaut und das Kantonsspital mit Standort Bruderholz zum COVID-Referenzspital erklärt. Die Strukturen konnten unter Mithilfe der Spitäler, insbesondere des Kantonsspitals Baselland (KSBL), der Ärztegesellschaft Baselland, des Zivilschutzes, der Armee, verwaltungsinterner Einheiten u.v.a. entsprechend angepasst werden. Dank der ausserordentlichen Lage, die vom Bundesrat ausgerufen wurde, und der kantonalen Notlage war es möglich, genügend Personal und Material für diese Strukturen zu erhalten. Personal aus dem Zivilschutz, dem Militär, medizinisches Personal aus den Praxen und den Spitälern konnten relativ einfach rekrutiert werden. Per 31. Mai 2020 hat der Kanton Basel-Land die Notlage für beendet erklärt. Bei den deutlich tieferen Fallzahlen wurde die Abklärungsstation Lausen auf passiv gestellt. Der Betrieb der Abklärungsstation in Münchenstein wurde aufrechterhalten, konnte an diesem Standort jedoch nur noch bis Ende Juli angeboten werden. Die Spitäler gingen wieder in Normalbetrieb, wobei das COVID-Referenzspital seine Bereitschaft aufrecht erhielt, Patienten mit SARS-CoV2-Infekten aufzunehmen.
Mit Beendigung der Notlage stand der Kanton BL vor der Herausforderung, zu planen, mit welcher Struktur der weitere, nicht absehbare Verlauf der COVID-19-Pandemie bewältigt werden könnte.

Anforderungen an die neue Struktur

Folgende Anforderungen wurden definiert:

– Mit der neuen Struktur müssen die gesetzlichen Vorgaben von Bund, Kanton sowie die Empfehlungen der WHO umgesetzt werden. Das «Incident Management System»[3] der WHO soll als Rahmen dienen.
– Ein Lagemonitoring soll die neu geschaffene Organisation anleiten, damit auf eine erneute Zunahme der Infektionsrate schnell und flexibel reagiert werden kann, um negative Auswirkungen auf Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft so klein wie möglich halten zu können (Prävention).
– Die Struktur muss flexibel und resilient sein, damit sie sich den wechselnden Anforderungen in der Epidemie/Pandemie schnell anpassen kann.
– Die Struktur soll der Bevölkerung schnellen Zugang zur Diagnostik, Behandlung und präventiven Massnahmen ermöglichen.
– Die Organisation soll für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft Grundlagen bereitstellen für deren Massnahmen und Kommunikation.
– Da viele Entscheidungen und Massnahmen aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen getroffen werden, braucht die Organisation eine wissenschaftliche Begleitung.
– Die neue Organisation muss kosteneffizient arbeiten und langfristig finanzierbar sein.
– Die Organisation kennt den Umsetzungsgrad und den Effekt ihrer Massnahmen.
– Die Organisation ist über die Kantonsgrenze hi­naus, sowohl national wie international vernetzt.

Prozess der Strukturentwicklung

Bei der Entwicklung der neuen Struktur wurden drei mögliche Varianten erarbeitet, die Varianten «Peripher», «Zentral» und «Hybrid» und bezüglich Angemessenheit, Machbarkeit, Tragbarkeit und Vollständigkeit bewertet.

Variante «Peripher»

Die Variante «Peripher» bedeutet eine Rückführung in die Strukturen vor COVID-19, die einzige Schnittstelle zwischen den Partnern bliebe die Meldepflicht von positiv getesteten / neu erkrankten Personen. Diese Variante wäre zwar einfach zu realisieren und tragbar, aber sie ist nicht angemessen und unvollständig, da sie die Pandemielage mit ihren Anforderungen nicht ausreichend unterstützt und eine frühzeitige Erkennung und angemessene Reaktion auf eine Eskalation nicht ermöglicht. Die «Lessons learned» und die Vorgaben des Epidemie-Gesetzes CH (EpG) [1], sowie des IMS würden nicht umgesetzt. Bei einer Verschärfung der Krise/ einer zweiten Welle müssten erneut Notfallstrukturen aufgebaut werden.

Variante «Zentral»

Mit der Variante «Zentral» wird eine komplett neue ­Organisation unter einem Dach geschaffen, welche alle Vorgaben des EpG und des IMS umsetzt. Der Aufbau ­einer komplett neuen Struktur in kürzester Zeit und während der Pandemie ist jedoch zeitlich und finan­ziell unrealistisch. Möglicherweise wird sich die ­Schaffung einer solchen Organisation im Sinne einer permanenten, eventuell regionalen (zum Beispiel Nordwestschweiz) «epidemiologischen Feuerwehr» langfristig als sinnvoll erweisen.

Variante «Hybrid»

Die Variante «Hybrid» nimmt die in der Notlage aufgebauten Strukturen auf, ergänzt sie durch die Empfehlungen des EpG und IMS und integriert diese in bestehende Strukturen des Amts für Gesundheit (AfG) im Volkswirtschafts- und Gesundheitsdepartement des Kantons Baselland. Diese Variante ist schnell umsetzbar, finanziell tragbar und entspricht den oben erwähnten Anforderungen.
Die Regierung hat sich daher für die Umsetzung der Variante «Hybrid» entschieden, sie wird folgend beschrieben.

Inzident Management System für ­Infektionskrankheiten/ Epidemien BL

Das Ziel ist die Krankheitslast durch COVID-19 und von zu erwartenden zukünftigen Infektionskrankheiten, sowie die damit verbundenen Auswirkungen auf die Gesellschaft und Wirtschaft, so tief wie möglich zu halten.

Die vier Hauptaufgaben des IMS sind

– Führung und Koordination aller Partner
– Kontrolle von Risiken
– Gesundheitsinformationen
– Gesundheitsinterventionen
Ein Stab führt und koordiniert die Aktivitäten des IMS mit drei operativen Einheiten und folgenden Aufgaben (siehe auch Abb. 1):
Abbildung 1
Einheit für Infektionskrankheiten / Epidemien im Amt für Gesundheit: Beurteilung von Risiken, rechtzeitige Warnung, Ausarbeitung von Gesundheitsmassnahmen, Controlling der verfügten Massnahmen
Abklärungs- und Teststation (vorerst für ein Jahr und flexibel an Infektlage anpassbar): Testung und Beratung in Abklärungsstation oder mit mobiler Einheit von infektiösen, symptomatischen Patienten, asymptomatischen Personen im Rahmen von Contact Tracing oder vor medizinischen Abklärungen/Eingriffen sowie von Personen im Rahmen von Monitoring-Untersuchungen und logistische Unterstützung bei wissenschaftlichen Studien.
Wissenschaftliche Begleitung: Schaffen von Entscheidungsgrundlagen und wissenschaftliche Beratung für Kanton und Wirtschaft

Führungsteam

Der Stab IMS geht aus dem bisherigen Teilstab Pandemie hervor (siehe Abb. 2).
Abbildung 2

Ressourcen

Personell

Da das neue IMS für Infektionskrankheiten / Epidemien BL langfristig bestehen soll, wurde primär auf den bestehenden Strukturen (Kantonales Amt für Gesundheit, Amt für Militär und Bevölkerungsschutz) aufgebaut. Es wurde jedoch erkannt, dass zusätzliche personelle Ressourcen geschaffen werden müssen, um alle Anforderungen erfüllen zu können. Insbesondere wurde erkannt, wie wichtig die Funktion des kantonsärztlichen Dienstes in einer Pandemiesituation ist und dass seine Kapazitäten den Anforderungen angepasst werden müssen. Weitere fixe zusätzliche Ressourcen sind nötig für die organisatorische Unterstützung des IMS-Stabs, der einmal pro Woche tagt, und die Koordination der Partner.
Weiter braucht es flexibel anpassbare Personalressourcen im Bereich des Contact Tracing sowie für die Abklärungs- und Teststation, inklusive der mobilen Einheiten. Im Kanton BL wird das Contact Tracing durch das Amt für Gesundheit (AfG) organisiert, die Abklärungs-/Teststationen inklusive mobile Einheit werden unter Leitung des AfG durch die kantonale Ärztegesellschaft betrieben und mit den Grundversorgern (Dualsystem) koordiniert.

Infrastruktur

Für die Abklärungs- und Teststation braucht es geeignete Lokalitäten, eine moderne IT-Infrastruktur und eine Software mit Schnittstellen zu allen Partnern, welche eine sichere und schnelle Datenübermittlung gewährt. Speziell muss auch die mobile Einheit eingebunden sein.
Die Infrastruktur soll bei Bedarf flexibel erweiterbar sein oder bei rückläufigen Ansteckungszahlen auf passiv gestellt werden können.

Flexibilität

Der Verlauf der COVID-19-Pandemie bleibt ungewiss. Neue Epidemien/Pandemien werden folgen. Das IMS muss seine Hauptaufgaben, Führung und Koordination aller Partner, Kontrolle von Risiken, Gesundheitsinformationen und Gesundheitsinterventionen flexibel an die Herausforderungen anpassen. Dafür müssen bei Bedarf schnell genügend Kapazitäten aufgebaut, aber auch nicht benötigte Ressourcen wieder abgebaut werden können (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3

Erste Erfahrungen

Der IMS Stab tagt seit 1. Juni wöchentlich. Pandemielage und Kapazitäten werden regelmässig analysiert. Alle Partner (Spitäler, Heime, Schulen, Ärzteschaft, Wissenschaft, Lage, Kommunikation etc.) sind im Stab eingebunden, allfällige neue Konzepte können gemeinsam ausgearbeitet werden. Informationen werden gegenseitig abgestimmt. Aufträge der Regierung werden entgegengenommen und rechtzeitig ausgeführt.
Das AfG hat die Contact-Tracing-Kapazitäten unter Führung des kantonsärztlichen Dienstes stark ausgebaut, entsprechend der Zunahme der Fallzahlen. Es besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Kantonsarzt und der Abklärungs- und Teststation mit der mobilen Einheit. Aufträge vom Kantonsarzt für Tests werden zeitgerecht durchgeführt, ein Beispiel dafür ist eine flächendeckende Testung von 120 Spitexpatienten, welche durch die mobile Einheit besucht wurden. Die mobile IT-Struktur hat sich sehr bewährt.
Der Übergang von den provisorischen Abklärungsstationen in eine längerdauernde Struktur ist grundsätzlich reibungslos abgelaufen. Die Herausforderung ist im Moment die flexible Anpassung der Testkapazitäten an die steigenden Fallzahlen. Die ursprüngliche Planung erfolgte im Mai, damals wurden noch ca. 10 Patienten/Tag getestet. Die Kapazität wurde dennoch mit 120 Tests/Tag mit Ausbaumöglichkeit auf 240/d berechnet. Nur ein paar Monate später ist der Bedarf schon über 300 Tests/Tag angestiegen. Dies unterstreicht die Wichtigkeit, die Struktur flexibel an den Bedarf anpassen zu können.
Die wissenschaftliche Begleitung hat sich als zentrale Entscheidungshilfe bewährt. Durch den Input neuster wissenschaftlicher Erkenntnisse von eigenen Studien und Daten anderer Forschungsgruppen sorgen die wissenschaftlichen Experten dafür, dass der IMS Stab und die Regierung laufend über die neuen Erkenntnisse zum SARS CoV-2 informiert sind und die Massnahmen entsprechend anpassen können.

Ausblick

Das IMS Infektionskrankheiten/Epidemien BL hat sich bisher gut bewährt. Die neue Struktur konnte zeitgerecht aufgebaut werden, ist an die Anforderungen angepasst, finanziell tragbar und deckt alle Bedürfnisse ab.
Wünschenswert wäre, wenn der Austausch zwischen den Kantonen auf der operativen Ebene noch verstärkt werden könnte. Eine IMS in allen Kantonen würde die Zusammenarbeit erleichtern, die Strukturen wären vergleichbar und nach aussen transparent.
Das Virus macht an den Kantonsgrenzen nicht halt. Eine institutionalisierte Stabszusammenarbeit würde bei grossen Ereignissen die Herausforderungen wesentlich besser und koordinierter abdecken können. Grossbrände werden auch nicht mehr nur mit kantonalen Mitteln gelöscht.

Das Wichtigste in Kürze

• Mit Beendigung der Notlage stand der Kanton Basel-Landschaft vor der Herausforderung, zu planen, mit welcher Struktur der weitere, nicht absehbare Verlauf der COVID-19-Pandemie bewältigt werden könnte.
• Bei der Entwicklung der neuen Struktur wurden drei mögliche Varianten erarbeitet und bezüglich Angemessenheit, Machbarkeit, Tragbarkeit und Vollständigkeit bewertet.
• Die Variante «Hybrid» für das IMS (Incident Management System) ist schnell umsetzbar, finanziell tragbar und entspricht den oben erwähnten Anforderungen, weshalb die Regierung sich für deren Umsetzung entschieden hat.

L’essentiel en bref

• Avec la fin de la situation extraordinaire, le canton de Bâle-Campagne a dû relever le défi de la planification d’une structure permettant de faire face au déroulement ultérieur imprévisible de la pandémie de COVID-19.
• Trois variantes de structure ont été mises au point, puis évaluées en termes d’adéquation, de faisabilité, de caractère économiquement supportable et d’exhaustivité.
• Rapidement applicable et financièrement supportable, la variante «hybride» pour l’IMS (système de gestion des interventions) répond à ces critères, c’est pourquoi le gouvernement a décidé de la mettre en œuvre.
Dr. med. Conrad E. Müller
FMH Kinderchirurgie, MBA,
Vorstand AeG BL
BauchKids
Kaspar Pfeiffer-Str. 4
CH-4142 Münchenstein
www.bauchkids.ch
2 Managing Epidemics WHO 2018: Key facts about major deadly diseases, ISBN 978-92-4-156553-0
3 Emergency response framework: 2nd ed., ISBN 978-92-4-151229-9; S34