Wem Kostendruck schadet – und wem er nützt

FMH
Ausgabe
2020/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19266
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(40):1251

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 29.09.2020

Als wir Ende 2019 unsere Mitglieder fragten, welche Herausforderungen die FMH in den kommenden Jahren angehen muss, standen neben der Interessenvertretung für die Ärzteschaft und dem Erhalt der Tarifautonomie viele Aspekte der täglichen Berufsausübung im Mittelpunkt: Neben den Arbeitsbedingungen im Allgemeinen wurden ganz konkret der Zeitdruck in der Arzt-Patienten-Beziehung, der Kostendruck in der Patientenbehandlung sowie die hohe administrative Belastung im Arzt­beruf als wichtige Themen hervorgehoben (siehe hierzu Artikel auf S. 1254 [1]).
Die gesundheitspolitischen Vorhaben des Jahres 2020 zeigen, dass diese Herausforderungen an Aktualität nicht verloren haben – im Gegenteil. Bereits die «Massnahmen zur Steuerung der Kosten» (Art. 47c) des ersten Kostendämpfungspakets, die Ende Oktober im Nationalrat beraten werden, könnten durch die Einführung eines Kostendeckels die Patientenversorgung und die Tarifautonomie schwächen: Steigen die Kosten über ein nach Kriterien des Bundesrats «akzeptables» Ausmass, soll eine «Anpassung der Vergütung» ([2], S. 6089) erfolgen. Dieser Mechanismus soll zukünftig auch das Erreichen der «Zielvorgaben» des zweiten Kostendämpfungspakets sicherstellen, das der Bundesrat kürzlich präsentierte. Spätestens dieses zweite Paket sollte nun auch dem Letzten zeigen, wohin die Reise gehen soll: Geplant ist ein staatlich dirigiertes Versorgungssystem mit obligatorischer Erstberatung für Patienten, Staatstarifen für Erstberater – und über ­allem ein im Voraus bundesrätlich festgelegter Kosten­deckel [3].
Solche drastischen Eingriffe in unsere Gesundheitsversorgung werden nur Mehrheiten finden, wenn dringender Handlungsbedarf aufgezeigt werden kann. Es ist daher naheliegend, dass die Diskussion rund um die Prämien nicht ausschliesslich durch die ehrliche Sorge um eine zunehmende Belastung der Haushalte motiviert ist: Grössere Prämienanstiege dienen als Argument, dass die geplante starke staatliche Regulierung unserer Gesundheitsversorgung dringend erforderlich sei. Niedrige Prämienrunden dienen als Argument, dass die bereits erfolgten staatlichen Eingriffe wirksam seien – und man «weiter kämpfen» müsse [4].Egal ob die Prämienrunde hoch oder niedrig ausfällt: Sie wird zur Legitimation der eigenen gesundheitspolitischen Agenda herangezogen. Und egal ob die Prämienrunde hoch oder niedrig ausfällt: Die Drohkulisse einer untragbaren Kostenentwicklung wird aufrechterhalten und beständig hoher Kostendämpfungsdruck signalisiert.
Analysen zu den Prämien zeigen jedoch, dass Vorhaben wie Kostendeckel nicht nur wenig zielführend, sondern auch unverhältnismässig sind [5–7]. Die Prämienentwicklung rechtfertigt die aktuelle Regulierungsflut nicht. Hinzu kommt, dass mit Hilfe der Prämienfestlegungen in den letzten Jahren die Reserven erhöht wurden. Dies ­verantworten nicht die Krankenversicherer, sondern entspricht dem geplanten «Reserveaufbau» des BAG [8]. Dieses muss mit seiner Prüfung und Genehmigung der Prämien sicherstellen, dass die Prämien einerseits «die Zahlungsfähigkeit des Versicherers gewährleisten» und andererseits auch nicht «zu übermässigen Reserven führen» [9].
Die Anliegen unserer Mitglieder [1] weisen auf eine grös­sere Diskrepanz zwischen dem ärztlichen Berufsalltag und der Wahrnehmung einiger politischer Akteure hin: Obwohl Zeit- und Kostendruck sowie administrative Tätigkeiten die Gesundheitsversorgung bereits heute belasten, sieht sich der Bundesrat berufen, mit büro­kratischen Kostendeckeln «das Kostenbewusstsein der verantwortlichen Akteure zu erhöhen». Sein Ziel, das «Kostenwachstum der OKP auf ein tragbares Mass zu reduzieren» ([2], S. 6090), soll die angestrebte, umfassende staatliche Steuerung legitimieren. Den Kostendämpfungsdruck möglichst hoch zu halten verleiht diesen politischen Bestrebungen Rückenwind – der Versorgung leider nicht.