Alain der Grosse und die kognitive Dissonanz. Der Realsatire 2.Teil

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19267
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(41):1305

Publiziert am 07.10.2020

Alain der Grosse und die kognitive Dissonanz. Der Realsatire 2. Teil

Der Philosoph R. D. Precht erklärt die kognitive Dissonanz anhand eines Beispiels in etwa so: Ein Sektenguru informiert die Gemeinde, dass Gott den Weltuntergang beschlossen hat, und zwar am 11.9.2020. Am 12.9.2020 existiert die Welt immer noch, und seine Jünger leiden nun an den Folgen dieser kognitiven Dissonanz: Einerseits wollen sie ihrem Guru blind vertrauen, andererseits ist die Welt nicht untergegangen. Der Guru muss diese Dissonanz lösen, oder seine Jünger ­werden sich enttäuscht von ihm abwenden. Er ­erklärt: «Durch unser fleissiges Gebet haben wir Gott gnädig gestimmt und er hat die Welt noch einmal verschont.» Die kognitive Dissonanz ist aufgelöst.
Wie die Sektenmitglieder habe auch ich einige Überzeugungen verinnerlicht. Zum Beispiel dass die Wahrung der demokratischen Rechte, der individuellen Freiheit, der freien Meinungsäusserung, der Bewegungs- und Reisefreiheit so unveräusserbar sind, dass es o.k. ist, jedes Jahr zu ihrer Verteidigung tausende junger gesunder Menschen zu rekrutieren, um im Militär bei Bedarf ihr Leben zu lassen. Dies galt bis ins Jahr 2019. 2020 erkennen meine sieben Gurus, dass diese Grundrechte relativierbar sind, wenn es darum geht, eine Grippe-ähnliche Krankheit aufzuhalten. Und in mir entsteht der Schmerz der kognitiven Dissonanz: Meine Gurus bereiten für zentrale Werte unserer ­Gesellschaft zehntausende Teenager im Militär auf tödliche Gefahren vor und dieselben Werte sind plötzlich verhandelbar, um unsere Spitäler nicht zu überlasten. Meine Versuche, diese Dissonanz aufzulösen, sind die folgenden:
1) Es geht ja nur um eine beschränkte Zeit. Bald ist alles wieder normal: Ja, schon möglich, aber was machen wir, wenn als nächstes nicht eine schwere Corona-Grippe kommt, sondern etwas wirklich schlimmes? Und was machen wir, wenn die nächste xy-Grippe wieder denselben Fehlalarm auslöst wie Corona? Gibt es eine Sicherheit für unsere Grundrechte? Leider haben meine Gurus keine guten Erklärungen, die es qualitativ mit jener des Sektengurus aufnehmen können.
2) Wir dürfen Alain vertrauen, schliesslich hat er uns für Ostern Ausgang versprochen bei guter Führung, und er hat sein Versprechen gehalten, erinnern Sie sich noch? Wer braucht da noch Grundrechte, wo wir doch unsern Alain haben?
3) Wenn der Russe kommt und wir unsere Söhne retten wollen, wie aktuell die möglichen Corona-Opfer (oder noch ein bisschen dringlicher, da unsere Soldaten im Schnitt 65 Jahre jünger sind als die Corona-Opfer), und sie deshalb nicht in die Schlacht gegen die Rus­sen schicken, verlieren wir unsere Freiheit auf immer und ewig. Die jetzigen Corona-Massnahmen dagegen gelten nur für kurze Zeit: Dieses Argument habe ich unter 1) bereits entkräftigt. Zudem: Hey, wir reden dar­über, dass unsere gesunden Söhne ihr Leben auf dem Schlachtfeld lassen sollen!!! Für ­dieselben Grundrechte, die für Corona so verzichtbar sind. Und glauben Sie mir: Putin würde uns bei guter Führung an Ostern auch etwas Ausgang geben! Alain und Vladimir wissen beide, was für uns wirklich wichtig ist!
4) Wir haben viele Menschenleben gerettet: Ja, v.a. kranke und schwer kranke sind im Lockdown nicht gestorben. Drei meiner geretteten Patienten sind inzwischen doch gestorben: ­einer mit Exit, einer an COPD erstickt und ­einer seinem Tumorleiden erlegen. Sie alle ­haben wir gerettet vor Corona, verurteilt, ihr Leiden bis zur bitteren Neige auszukosten.
Ich fürchte, meine kognitive Dissonanz bleibt vorerst bestehen.
Meine Gurus haben noch nicht genug für die Rettung der Welt gebetet.