Sans-Papiers können sich Krankenversorgung oft nicht leisten

Gesundheitsversorgung: Zugang für alle

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2020/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19281
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(45):1492-1493

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, emeritierter leitender Arzt der Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers des SRK in Wabern

Publiziert am 04.11.2020

Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) in Bern engagiert sich für die Anliegen von Menschen, deren Gesundheitsversorgung, deren Leben und Würde gefährdet sind und die einer besonderen Unterstützung bedürfen. Dazu gehören ganz besonders Sans-Papiers, Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz.
Seit 2007 betreibt das SRK in Bern eine medizinische Versorgungsstelle für Menschen ohne geregelten Aufenthalt in der Schweiz. Ursprünglich war die Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers (GVSP) als Hausarztpraxis gedacht, doch sie wurde zunehmend auch zu einer Triagestelle bei besonders schwierigen Fällen für den Eintritt in die Regelversorgung. Dies wurde möglich, weil das Versicherungsobligatorium für alle in der Schweiz lebenden Personen gilt. Die medizinische Sprechstunde des SRK wird an drei Halbtagen pro ­Woche von zwei Gesundheitsfachpersonen und mehreren auf freiwilliger Basis arbeitenden Ärztinnen und Ärzten betrieben. Das Spektrum der Krankheiten ist sehr breit, doch das Angebot muss sich auf das Nötigste beschränken, da die Mittel knapp sind. Die folgenden Dienstleistungen werden angeboten:
– Abklärung und Beratung
– Behandlung allgemeinmedizinischer Probleme
– Psychiatrische Unterstützung
– Informationen zu Prävention
– Beratung bezüglich Abschluss einer Krankenkasse
– Gynäkologisch-geburtshilfliche Sprechstunde
– Überweisung an Fachärztinnen, Zahnärzte und Spitäler
– Unterstützung bei zahnmedizinischen Problemen
Bei vielen Patientinnen und Patienten stehen neben den rein medizinischen auch psychosoziale Probleme im Vordergrund. Diese sind mit einem grossen Zeitaufwand verbunden und werden, falls möglich und ­erwünscht, im Ambulatorium für Folter- und Kriegs­opfer SRK weiterbehandelt.

Diskrepanz zwischen Anrecht und tatsächlicher Gesundheitsversorgung

Wie in den meisten Ländern besteht auch in der Schweiz für Sans-Papiers eine Diskrepanz zwischen dem Anrecht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung und der tatsächlichen Versorgung. Die Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers ist nicht garantiert. Dieses Dilemma wird gemildert durch die obligatorische Krankenversicherung, die auch für sie gilt. In vielen Fällen können sich aber Sans-Papiers eine Krankenversicherung gar nicht leisten, selbst wenn sie die Prämienverbilligung in Anspruch nehmen können.
In den letzten Jahren wurden in einigen Kantonen und grösseren Städten der Romandie medizinische Anlaufstellen von Kantonsspitälern (Waadt und Genf) geschaffen. In der Deutschschweiz ist zivilgesellschaft­liche Initiative nötig, in Bern und Zürich führt das SRK je eine Anlaufstelle. Die regionalen Unterschiede sind gross.

Es braucht Freiwillige aus dem Gesundheitsbereich

Die Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers des SRK in Wabern sucht immer wieder erfahrene Ärztinnen, Zahnärzte und weitere Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, welche bereit sind, sich auf freiwilliger Basis für Sans-Papiers-Patientinnen und -Patienten zu engagieren.
Weitere Informationen unter: https://www.redcross.ch/de/node/27334

Ein Fallbeispiel

Herr S. ist 31 Jahre alt und stammt aus Afghanistan. Nachdem sein Asylgesuch in der Schweiz abgelehnt wurde, tauchte er unter und wurde zum Sans-Papier. Seine Ansprüche auf medizinische Notfallversorgung erloschen.
Erstmals kam er im November 2018 zur Behandlung seiner Diabetes in die Anlaufstelle Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers. Über die Zeit erfuhren die Mitarbeitenden von ihm bruchstückweise, oft stockend und unter Tränen, eine dramatische Lebens- und Fluchtgeschichte, die ihn an den Rand eines Suizides brachte: Herr S. wurde in ­Afghanistan als fünftes Kind einer Familie geboren, die der ethnischen Minderheit der Hazara angehört. Als er ein Kleinkind war, musste die Familie wegen Verfolgung nach Pakistan fliehen. Aber auch dort hatten sie unter Feindseligkeiten zu leiden, wurden bedroht und Opfer von Gewalt. Herr S. konnte keinen Beruf erlernen, war aber später bei einer Hilfsorganisation als Ambulanzfahrer tätig. Die Krankentransporte wurden immer wieder von Terroristen angegriffen.
Auch in der Schweiz wurde Herr S. immer wieder von seinen traumatischen Kriegs- und Terrorerlebnissen verfolgt. In Form von Träumen und Flashbacks raubten sie ihm den Schlaf, versetzten ihn in Angst, Schrecken und Trauer. Selbstmord erschien ihm als einziger Ausweg. In langen und aufwühlenden Therapiestunden am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK sprach er schliesslich über seine Erlebnisse, von verletzten Menschen und sterbenden Kindern, Bombenanschlägen, Verfolgungen, Erschiessungen und von lebensbedrohlichen Situationen auf seiner Flucht. Die psychiatrische Betreuung, teilweise medikamentös unterstützt, führte teils zu einer Entlastung. Doch beunruhigende Nachrichten aus Pakistan, der Tod des Vaters und das Verschwinden der Familie, führten zu neuen Krisen. Als sein Asylgesuch auch in einem zweiten Anlauf abgelehnt wurde und ihm die Ausschaffung drohte, war er voller Angst und Verzweiflung. Die Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers begleitete ihn auch in dieser schwierigen Zeit weiter.
Laut letzten Informationen wurde ein Härtefallgesuch für Herrn S. positiv beurteilt. Er wird somit voraussichtlich in der Schweiz bleiben können.

Sans-Papiers: Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung

Als «Sans-Papiers» werden generell Menschen bezeichnet, die ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz wohnen. Manche leben so über Jahre oder Jahrzehnte in der Verborgenheit und führen ein prekäres Leben. Eine vom Staatssekretariat für Migration in Auftrag gegebene Studie kommt zum Schluss, dass «davon ausgegangen werden kann, dass die Zahl der Sans-Papiers aus sogenannten Drittstaaten (Länder aus­serhalb des EU/EFTA Raums) zwischen 58 000 und 105 000 liegt» [1]. NGOs hingegen schätzen, dass die wahre Anzahl Sans-Papiers in der Schweiz viel höher liegt.
Die soziale Stellung der Sans-Papiers ist ungesichert. Die meisten sind nicht krankenversichert, obwohl sie es sein könnten, wenn es nicht zu teuer wäre. Sie arbeiten schwarz und sind daher meist weder gegen Unfall noch für das Alter versichert. Die Kinder gehen zur Schule, dürfen jedoch nicht als Sans-Papiers erkannt werden.
Es gibt viele Gründe, warum jemand keinen geregelten Aufenthalt hat, z.B. weil die Person ...
– mit einem Touristenvisum eingereist ist und bleibt,
– ein Familienmitglied ist, dessen Familiennachzug abgelehnt wurde,
– ohne Visum eingereist ist,
– aus einer Krisenregion eingereist ist, das Asylgesuch aber abgewiesen wurde,
– ein ehemaliger Saisonnier ist.
Viele Sans-Papiers stammen aus Krisenregionen in ­Afrika, Asien und Lateinamerika, andere aus Ost­europa und dem Balkan. Viele verlassen ihre Heimat, weil sie vor der Armut flüchten, und arbeiten oft zu niedrigsten Löhnen schwarz im Haushalt, in der Landwirtschaft, auf dem Bau, bei Zügelunternehmen oder im Gastgewerbe. Sie leben meist unter prekären Verhältnissen in der Anonymität und sind vor Ausbeutung und Betrug ungeschützt, da sie fürchten müssen aufzufliegen, was zur Ausschaffung führen könnte.
Schweizerisches Rotes Kreuz
Gesundheitsversorgung Sans-Papiers
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