Individuelle Freiheit und öffentliche Gesundheit

Das Phänomen der Maskengegner

Tribüne
Ausgabe
2020/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19295
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(44):1477

Affiliations
Dr. med., ehemaliger Kantonsarzt Waadt, Mitglied der Redaktion

Publiziert am 27.10.2020

Hier und anderswo gehen Menschen gegen die Maskenpflicht auf die Strasse, weil sie diese als übermässig autoritäre Massnahme empfinden. Genährt werden die Proteste durch libertäre Ideen und Verschwörungsnarrative. In meiner Laufbahn im öffentlichen Gesund­heitswesen habe ich diverse Kämpfe erlebt, die über Einschränkungen der Freiheit (alles tun zu dürfen) zugunsten des Schutzes von Gesundheit und Leben geführt wurden. Um das Jahr 1980 herum machte ich mich angreifbar, weil ich mich für die Gurtpflicht im Auto aussprach, obwohl Politiker und des Volkes Stimme in der Westschweiz sich diesem Vorhaben überwiegend widersetzten. Sogar Ärzte lehnten diese Präventivmassnahme ab, die schliesslich eingeführt wurde und pro Jahr 200 Verkehrstote und viele Schwerstverletzte verhindert hat.
Klar ist: Covid-19 und die Maskenpflicht werfen einige Fragen auf. In manchen Situationen müssen Wissenschaftler und Politiker aber zunächst auf Sicht fahren und Erfahrungen sammeln. Die Verantwortungs­träger tun ihr Bestes in Situationen, in denen nun einmal nicht alle Antworten auf der Hand liegen, in denen Unsicherheit vorherrscht – und in denen man auf seinen gesunden Menschenverstand zurückgreifen muss.
Ich bin überzeugt: Die Maske schützt uns selbst, unsere Lieben und die Gemeinschaft. Diejenigen, die am Tragen der Maske ihre Zweifel haben, sollten es als Akt bürgerlicher und menschlicher Solidarität dennoch tun. Nebenbei bemerkt: Hier vertrete ich die gleiche Meinung wie in einem anderen Bereich, in dem es Widerstand gibt, nämlich bei der Impfung: Wenn es keine formale medizinische Kontraindikation gibt, ist die Impfung der eigenen Kinder auch ein Akt der Solidarität.
An dieser Stelle möchte ich auf meine Sozialisation als Kind und Jugendlicher in einem dörflichen, boden­ständigen Umfeld verweisen, das von Arbeit geprägt war – aber eben auch vom Respekt für die Mitmenschen und von Toleranz. In diesem Umfeld war es – in aller Bescheidenheit – selbstverständlich, wo nötig Verzicht zu üben und ein Opfer für das Gemeinwohl zu bringen. Es wäre wohl kaum zu grösseren Diskussionen über das Tragen einer Maske inmitten einer Pandemie gekommen.
Mir ist natürlich klar, dass dieser gesellschaftliche Bezugsrahmen rund siebzigjährig ist, es galt: «Befehl ist Befehl.» Das Leben hat sich verändert, und in vielen Bereichen eindeutig zum Besseren: Eine Bevormundung wollen wir uns aus gutem Grund nicht mehr gefallen lassen – die Selbstbestimmung von Kindern, Jugendlichen und natürlich ganz besonders der Frauen ist ein unschätzbarer Fortschritt. Allerdings sollte das Recht auf eine eigene Meinung nicht dazu führen, dass ­dieser Meinung grundsätzlich der gleiche Stellenwert beigemessen wird wie den Einschätzungen von Fachpersonen.
Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang an die Worte eines US-amerikanischen Politikers erinnert werden, wonach zwar jeder das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand ein Recht auf eigene Fakten hat. Von Maskengegnern darf man deshalb erwarten, dass sie ihre Thesen mit Fakten untermauern.
Noch eine Anmerkung: In der anfangs geschilderten Debatte zur Gurtpflicht wurde argumentiert, wenn man [das Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes] sanktioniere, um Todesfälle zu vermeiden, müsse man auch das Bergsteigen verbieten. Diese Argumentation ist unlogisch: Das Bergsteigen zu verbieten wäre ein Eingriff in die Freiheit der Sportlerinnen und Sportler, eine Betätigung auszuüben, die ihnen viel bedeutet und Momente grossen Glücks beschert. Wie kann man auf die Idee kommen, dass das Anlegen eines Sicherheitsgurts das Glück eines Menschen in gleicher Weise beeinträchtigt? Oder wollen wir etwa die Pflicht aufheben, an einer roten Ampel stehen zu bleiben, nur weil uns dies in unserer Handlungsfreiheit beschränkt? Ich glaube nicht, dass das Tragen einer Maske uns in unserer Freiheit ernsthaft beschneidet.
Vielleicht werden bald neue Beobachtungen und wissenschaftliche Arbeiten unsere derzeitige Einschätzung der Maskenpflicht ändern. In der Zwischenzeit aber vertraue ich denjenigen, die ich für vertrauenswür­dig halte.
jean.martin[at]saez.ch