(Umgekehrt) Proportional

Horizonte
Ausgabe
2020/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19324
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(50):1711

Affiliations
Pfad entlang des Morteratschgletschers

Publiziert am 08.12.2020

Um Neunzehnhundert reichte
die Gletscherzunge bis hierher,
so sagt die Tafel.
Und Neunzehnhundertzwanzig
ist sie schon etwas kürzer.
Und nochmals ist es weniger,
Neunzehnhundertvierzig.
Da hat es mich auf dieser Welt
schon sieben Jahr gegeben.
Neunzehnhundertfünfzig,
da war ich erstmals Gast
im Grand Hotel des Bains.
Mit siebzehn Jahren also
sah ich den Gletscher hier.
Er hat an Länge ab-,
an Alter ich dagegen zugenommen.
Neunzehnhundertsechzig
ist er nochmals geschrumpft,
die Länge hin zum Messbeginn
hat aber zugenommen,
gleich wie mein Alter.
Es ist nun zwanzig Jahr und sieben.
Im nächsten Jahr darauf
hab’ ich zum Ehestand gewechselt
und ein paar Jahre später
mit Klara den Piz Morteratsch bestiegen.
Den Schwund um Neunzehnhundertsiebzig
erlebten wir im fernen Afrika.
Doch dann lebt’ ich nicht fern,
Neunzehnhundertachtzig, -neunzig.
Gemeinsam mit der Frau
und auch mit den zwei Kindern
begleiteten den Rückzug wir
und merkten, wenn wir ehrlich sind,
das negative Wachstum nicht.
Wir waren immer wieder nahe,
doch die paar hundert Meter,
die schmolzen pro Dezennium,
sind nur anhand der Tafeln,
der Zeitenraffung kenntlich.
So spiegelt sich mein Leben
im scheinbar toten Gletscher.
Der Gletscher wird stets kürzer
verkehrt proportional zum Leben.
Und beides geht
recht unmerklich vorbei.
Proportional dagegen ist
die Differenz zum frühern Gletschermund
zur Anzahl meiner Lebensjahre.
Im Jahr Zweitausend
und im Nullfünf,
da ist der Gletscher praktisch
an seiner Wurzel angelangt,
die Zunge ist kaum mehr;
und auch mein Leben,
es geht dem Ende zu.
Der Gletscher wird stets kürzer
wie auch die Zeit,
die mir zum Leben noch verbleibt.
Die Wanderung entlang dem Gletscher
mit seinem langen Schwund
zeigt mir mein Leben,
das auch konstant zerrinnt,
und macht auch klar:
die Meter bis zum Ende,
die Jahre bis zum Tod
die nehmen stetig ab.
Doch, könnte es nicht sein,
dass Gletscher wieder wachsen?
Und ist mein Ende nicht
der Anfang neuen Lebens?
Was wissen wir denn schon,
was Gott dem Eis bestimmt?
Doch wissen wir für sicher,
dass Er uns nach dem Tod
ein ewig’ Leben schenkt.
Dr. med. David Künzler, Affoltern am Albis
dkkuenzler[at]bluewin.ch