Die Illusion einer ­kontrollierbaren Welt

FMH
Ausgabe
2020/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19343
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(44):1441

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 27.10.2020

«Prognosen sind schwierig – vor allem wenn sie die Zukunft betreffen», das ist in diesen Tagen immer wieder spürbar: Am Tag der Abgabe dieses Editorials – dem 16. Oktober – verzeichnet die Schweiz 3105 neue Corona-Infektionen und sehr stark steigende Fallzahlen. Wie wird die Situation am Tag der Publikation – dem 28. Oktober – aussehen? Heute weiss es niemand – und trotzdem werden es am 28. Oktober wohl viele bereits gewusst haben.
«Wir haben gewusst, dass es so kommen kann» [1], kommentierte auch Bundesrat Berset am 12. Oktober den sprunghaft starken Anstieg der Corona-Fälle. Zentral ist hierbei jedoch das «kann»: Wir wissen meist von vielen Szenarien, dass sie eintreten können – nur welches davon eintreten wird und wann, ist dann auch dem Bundesrat «ein Rätsel» [2]. Die Corona-Krise stellt unsere «Illusion einer kontrollierbaren Welt» auf die Probe, die vielleicht «grösste Lebenslüge unserer Kultur», wie der Soziologe Armin Nassehi kürzlich sagte [3]: Der hohen Komplexität aktueller Herausforderungen stellen wir eine «scheinbare Berechenbarkeit» gegenüber – auf unserer «Suche nach neuen Sicherheiten und einfachen Lösungen» [3].
Diese Aussagen Nassehis lassen sich auch auf die ak­tuelle Kostendämpfungspolitik anwenden. Auch hier wird einer hochkomplexen Herausforderung – den Gesundheitskosten – ein denkbar einfaches, Sicherheit und Berechenbarkeit versprechendes Rezept gegenübergestellt: umfassende staatliche Regulierung. Vor allem die geplanten «Massnahmen zur Steuerung der Kosten» [4] und die «Zielvorgabe» verdeutlichen die Illusion von Berechenbarkeit und Kontrolle. Man meint genau prognostizieren zu können, wie hoch der medizinisch begründete Kostenzuwachs in Zukunft ausfallen wird. Man müsse nur die Auswirkungen einiger Faktoren auf die zukünftigen Gesundheitskosten kalkulieren, darunter «neue Pflichtleistungen, medizinischer Fortschritt, demografische Entwicklung, Effizienzsteigerung in der medizinischen Versorgung, strukturelle Angebots- und Nachfrageentwicklungen [und] Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen» ([5], S. 6133). Als «handle es sich um eine exakte Wissenschaft» [6] soll ein Zuwachs oberhalb der so prognostizierten «gerechtfertigte[n] Kostensteigerung» ([5], S. 6133) nicht mehr vergütet werden. Man setzt auf «Steuerung»: Diese wird in den bundesrätlichen Massnahmenpaketen 169 Mal erwähnt [6].
Die Auswirkungen so vieler – und in sich bereits enorm komplexer – Faktoren vorab genau berechnen und das Ergebnis zur Steuerung verwenden zu wollen, zeugt nicht nur von der Illusion einer berechenbaren und kontrollierbaren Welt. Es verkennt auch, «dass die Wahrheit nicht einfach verordnet» werden kann, wie Nassehi sagt: Die Wissenschaft mit ihren Berechnungen «liefert bisweilen widersprechende Antworten – und immer nur vorläufige» [3]. Ihre Prognosen weisen zudem oft grosse Schwankungsbreiten auf. Dies gilt insbesondere für Vorhersagen zu komplexen Sachverhalten – wie der Corona-­Krise oder auch den Gesundheitskosten.
Sind wir also einer unkontrollierbaren Welt, einer unkontrollierbaren Pandemie und unkontrollierbaren Gesundheitskosten ausgeliefert? Nein, denn selbstverständlich können wir gut begründete Annahmen über zukünftige Entwicklungen machen und sollten die wichtigsten Szenarien gut vorbereiten bzw. rechtzeitig gegensteuern. Bei aller Voraussicht gilt es aber, die Pro­gnose nicht mit der Realität zu verwechseln, sondern das Handeln flexibel der Situation anzupassen. In Hinblick auf die Corona-Krise hebt der Gesundheitsminister die Bedeutung der Flexibilität hervor [7] – im Umgang mit den Gesundheitskosten plant er jedoch starre Vorgaben. Doch genauso, wie wir heute Corona-Pa­tienten behandeln, von denen wir letztes Jahr noch nichts wussten, sollten wir auch 2024 Behandlungen ­bezahlen, die 2022 niemand in die Kostensteuerung einberechnet hat.