Whistleblowing, Klinikdirektoren und Innovationsbedarf

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2020/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19359
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(48):1607-1609

Affiliations
a college M, Bern; b ISPM, Universität Bern

Publiziert am 24.11.2020

Jüngst haben mehrere Fälle von Whistleblowing in Spitälern für Aufsehen gesorgt. Ihre Häufung legt einen Blick auf systemische Zusammenhänge nahe. Wie alle ­Organisationen sind Spitäler Mischungen aus Formalität und Informalität. Dies ­erlaubt, «klug» mit Regeln, Weisungen und Vorgaben umzugehen und widersprüchliche Erwartungen in führungsfähige Formate zu übersetzen. Das Modell «Klinikdirektor» ist eine solche Mischung, die aber an Grenzen stösst. Organisatorische Innovation ist gefragt und mehr Mut erwünscht.
Speziell die Fälle von Whistleblowing am UniversitätsSpital Zürich haben grosse Aufmerksamkeit erzeugt. Die im Zuge der medialen Aufarbeitung nach und nach aufgetauchten Dokumente – Entlastungsgutachten, kritische oder zustimmende Einschätzungen aktueller wie ehemaliger Mitarbeitender, durch Kam­pagnenmanager und Anwälte gezielt gestreute ­Details – haben wenig zur Klärung beigetragen, aber ­immerhin auf die Komplexität der Sachverhalte verwiesen. Zusammen mit der Häufung der Fälle lassen sich systemische Zusammenhänge vermuten.

Widersprüchliche Erwartungen

Die Anforderungen an Spitäler sind vielfältig und teilweise ausgesprochen widersprüchlicher Natur: Sie sollen ausgezeichnete Patientenversorgung gewährleisten, betriebswirtschaftlich glänzen, äusserste Sorgfalt in ihren Behandlungsroutinen pflegen, Neuerungen ­vorantreiben, den Nachwuchs ausbilden, sowieso ­ef­fizient sein und überdies relevante Forschung betreiben. Ausserdem sollen sie ethischen ­Anforderungen entsprechen, einer kritischen Öffentlichkeit standhalten und politisch Freude bereiten.
Die mit solchen widersprüchlichen Erwartungen einhergehenden Spannungen mögen in Spitälern besonders akzentuiert sein, im Grundsatz müssen aber auch viele andere Organisationen damit umgehen. Die Managementlehre tut diesbezüglich gerne so, wie wenn widersprüchliche Erwartungen mit einfachen Priorisierungen abgearbeitet werden könnten. Das ist aber eine Illusion. Wer forscht, kann in den meisten Fällen nicht gleichzeitig Dienstleistung machen; wer individuell und patientenorientiert behandelt, kann unter Umständen nicht alle formalen Regeln der Organisation befolgen; wer innoviert, benötigt Zeit und Raum und muss vielleicht Risiken eingehen. Keine Anweisung, keine formale Struktur kann diese Spannungen auflösen. Und gleichzeitig müssen sie irgendwie in führbare Situationen übersetzt werden.
Das Format des Klinikdirektors (die männliche Form ist hier mit Absicht gewählt), also die Bündelung von Arzt, Lehrer, Forscher und Manager in einer Stelle, bildete lange Zeit ein diesbezüglich raffiniertes Modell. Indem dieser Stelle formal die Aufgabe überantwortet wurde, weitgehend autonom und informal zu entscheiden, wie, von wem und in welcher Mischung Dienstleistung, Forschung und Ausbildung etc. konkret wahrgenommen werden, konnten organisationa­le Spannungen lange Zeit recht erfolgreich balanciert werden.

Formal, informal, scheinheilig

Wie alle Organisationen verfügen Spitäler zwar einerseits über formale Strukturen, Weisungen, Regelungen und Guidelines, die definieren, was wie zu tun und was zu unterlassen ist. Andererseits aber produziert und benötigt jede Organisation Informalität. Die Menschen sprechen miteinander, finden sich sympathisch, verhandeln Interessen und Ziele, entwickeln zusammen Sichtweisen und Vorgehensweisen, ärgern sich, stacheln sich an, finden zu gemeinsamen Handlungsmustern – kurz: Sie produzieren miteinander Kultur. Und diese Kultur prägt, welche Probleme gesehen und welche Lösungen gewählt, welche Praktiken toleriert und welche sanktioniert werden, und wie man miteinander umgeht. Informalität erlaubt auch, die Dinge einfacher, «auf dem kleinen Dienstweg» zu erledigen, zugunsten von Entscheidungsbildung Absprachen zu treffen, zugunsten von Effizienz Abkürzungen zu nehmen – weil man sich kennt, weil man in Netzwerken zusammenarbeitet, weil man einander vertraut. Das bedeutet auch ein ­Abweichen von formalen (manchmal sogar gesetzlichen) Vorgaben – in den Augen der Beteiligten aber durchaus zugunsten ­einer guten Auf­gabenerfüllung.
Erst diese formal-informalen Mischungen machen Organisationen leistungsfähig. «Organisationale Klugheit liegt also weder in einem sklavischen Befolgen von aussen vorgegebener oder von der Organisation selbst gesetzter Regeln, noch in deren prinzipieller ­Ignorierung, sondern in der Ermöglichung punktueller Abweichungen» [1]. Es gibt daher eine «brauchbare Illegalität» in Organisationen, und nicht zuletzt darum funktionieren diese mehr in shades of grey denn in Schwarz/Weiss-Unterscheidungen. Zu komplex ist die Welt, mit der sie sich herumschlagen müssen.
Offiziell sind solche Abweichungen natürlich nicht gestattet. Darum kommt eine dritte Dimension ins Spiel, nämlich das inhärente Bestreben von Organisationen, nach aussen hin – gegenüber Patientinnen, Politik, Medien etc. – positiv dazustehen, eine «saubere Fassade» auszuweisen, die nicht durchbrochen werden soll. Übel dem, der – z.B. durch Whistleblowing – genau dazu beiträgt. Der wird dann gemassregelt und die ­Organisation von dieser Illoyalität gereinigt. Auch wenn die angeprangerten Praktiken vorher durchaus gewusst, wenn nicht sogar gebilligt wurden. Die Organisationsforschung spricht hier von der nützlichen «Scheinheiligkeit» von Organisationen [2].

Whistleblowing

Neben «kluger» Handhabungen «brauchbarer» Regelbrüche gibt es allerdings auch «unkluge», die Schaden anrichten. Der Übergang von «klug» zu «unklug» folgt dabei meist eher einem Hineinrutschen denn einer klaren Intention. Wichtig dafür sind hohe, oft widersprüchliche Erwartungen, die für Spannungen sorgen. Die daraus folgende Überforderung wird durch Willkür und sonstige Ausweichstrategien kompensiert. Zusammen mit Druck und Angst, einer Kultur der Selbstüberhöhung, garniert noch mit einer Prise Narzissmus, mixt sich das gerne zu einer toxischen Tinktur. Unbekannt in Spitälern? Sicher nicht. Da passiert Fragwürdiges, dort wird gemunkelt, aber die Klinik ist gut, bringt Erträge, der Chef verkauft sich ausgezeichnet, der Laden brummt. Alle profitieren. Die Klinikkultur erlaubt kein speaking up. Die Kollegen aus den anderen Fächern reden sowieso nicht drein. Der Raum für problematische Praktiken ist offen.
Wird ethisch Fragwürdiges oder Patienten schädigendes Verhalten beobachtet, ist es anzuzeigen. Und wenn alle diesbezüglichen Versuche und Dienstwege versagen, hat Whistleblowing eine wichtige Funktion. Das fragwürdige Verhalten wird dann typischerweise personalisiert und ein «Einzeltäter» ausgemacht, der relegiert werden kann. Der eine Arzt, der nicht aufgeklärt hat, der Wissenschaftler, der Daten nicht vollständig angegeben hat … Manchmal ist das angemessen, aber in vielen Fällen ist «Personalisierung» – darüber ist sich die Organisationsforschung einig – eine häufige Praxis, um grössere Zusammenhänge im Dunkeln halten zu können.

Die Komplizenschaft als Gegenüber des Whistleblowers

Das Beispiel «Dieselgate» (nicht nur) von VW steht exemplarisch für die manchmal so prekäre Mischung von Formalität und Informalität. Selbstverständlich gab es bei VW nie einen formalen Auftrag, eine Software für Abgasbetrug zu entwickeln. Aber das Management machte massiven Druck, Kritisches durfte nicht gesagt werden, ein Klima der Angst erzwang ungünstige Ruhe und förderte die Suche nach Ausweichstrategien. Die Etablierung der betrügerischen Software funktionierte, weil viele mitgespielt hatten und sich in die Kultur des Unternehmens und der Branche eingebunden wussten. Das Gegenüber des Whistleblowers ist darum die Komplizenschaft (über die niemand gerne spricht …).

Jenseits der Black Box: ­Umgehen mit ­Autonomie

Wenn Widersprüche nicht strukturell aufgelöst werden können, bleiben nur konfigurative und prozesshafte Ansätze. Nicht Stellen und nicht personale Kompetenzen sind dann die Lösung, sondern innovative Führungskonstellationen zusammen mit einer Kultur, die so weit frei ist von Abhängigkeit und Angst, dass ­organisationale Spannungen nicht hinter dem Mantel der Willkür verschwinden müssen. Diese Kulturen können den heute wichtigen Anforderungen bezüglich Transparenz, Fairness und psychologischer Sicherheit [3] ganz anders entsprechen als es die Black Box «Klinikdirektor» bieten kann. Nicht umsonst ist die exzellente Hamburger Martini-Klinik auf Transparenz und gleichgestellte Faculty gebürstet. Da gibt es einen Sprecher nach aussen, aber keinen Chef nach innen. Das Prinzip der schonungslos transparenten Qualitäts­daten verträgt sich nicht mit Hierarchisierung, begünstigt aber Lernen und Besserung der Outcomes, wie es selten sonst zu sehen ist.
Professionelle Autonomie ist nötig zur Bewältigung der Komplexität der Krankenbehandlung. Dieser Autonomiebedarf, maximal akzentuiert im deutsch­sprachigen Typus von Ordinarius/Chefarzt, sieht sich heute durch Erwartungsprofilierungen herausgefordert: durch mündigere Patienten, erwartungsfrohen Nachwuchs, fordernde Geschäftsleitungen, findige Controller, eine kritische Öffentlichkeit und nicht zuletzt eine hochkompetitive scientific community. Neue Lösungen sind gefordert. Dabei interessieren Formen einer collective leadership.
Eine collective leadership wird es jedoch nicht geben, wenn die zugrundeliegenden Funktionen (z.B. Auto­nomiebedarf) als gefährdet empfunden werden. Dann fliesst Energie in Verteidigung statt in Entwicklung. Bemerkenswert ist dabei die begrenzte Fantasie. Das Problem ist doch bekannt, wo sind die alternativen Vorschläge? Wo sind die Führungs- und Organisationsexperimente? Für den mangelnden Mut dürften sowohl professionelle Mythologien über das akademische Arztsein als auch der sich weiter verstärkende betriebswirtschaftliche Druck und der Führungsanspruch des Managements verantwortlich zeichnen. Beide Aspekte finden sich dann noch von der institu­tionellen Ebene von Spitälern und Universitäten über­lagert. Das ergibt, zugegeben, eine äusserst diffizile ­Gemengelage.
Gezielte organisationale Innovation wird es nur geben, wenn hinreichend Freiheit für die Erfindung funktionaler Formen von collective leadership besteht und nicht gleichzeitig Machtansprüche abgewehrt werden müssen.

Das Wichtigste in Kürze

• Mehrere Fälle von Whistleblowing haben in letzter Zeit in Spitälern für Aufsehen gesorgt.
• Wird ethisch Fragwürdiges oder Patienten schädigendes Verhal­ten beobachtet, ist es anzuzeigen – und wenn alle dies­bezüglichen Versuche und Dienstwege versagen, hat Whistle­blowing eine wichtige Funktion.
• Wie alle Organisationen sind Spitäler Mischungen aus Formalität und Informalität.
• Dies erlaubt, «klug» mit Regeln, Weisungen und Vorgaben umzugehen und widersprüchliche Erwartungen in führungsfähige Formate zu übersetzen.
• Organisatorische Innovation ist gefragt und mehr Mut erwünscht.

L’essentiel en bref

• Plusieurs cas de whistleblowing dans les hôpitaux ont récemment fait parler d’eux.
• Si l’on est témoin d’un fait douteux sur le plan éthique ou d’un comportement préjudiciable au patient, il faut le signaler. Et le whistleblowing joue un rôle important lorsque toutes les tentatives et les voies hiérarchiques échouent.
• Comme dans toutes les organisations, il y a dans les hôpitaux un mélange de mécanismes formels et informels.
• Cela permet de gérer «intelligemment» les règles, instructions et directives et de traduire les attentes contradictoires en formats compatibles avec le management.
• Il est nécessaire d’innover en termes d’organisation et davantage de courage serait souhaitable.
Christof Schmitz,
college M
Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
christof.schmitz[at]college-m.ch
Nicole.steck[at]ispm.unibe.ch
Peter.berchtold[at]ispm.unibe.ch
marcel.zwahlen[at]ispm.unibe.ch
1 Kühl S. Brauchbare Illegalität. Frankfurt: Campus; 2020 (S. 48f).
2 Brunsson N. The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations. Chichester: Wiley; 1989.
3 Edmondson A. The Fearless Organisation. Harvard; 2019.