Aussergewöhnliche Berufsperspektiven für Mediziner

Beste Auskunft: «fit to fly»

Horizonte
Ausgabe
2020/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19381
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(50):1704-1706

Affiliations
Texterin

Publiziert am 08.12.2020

Die letzte Prüfung ist geschafft, das Medizinstudium beendet. Und wie geht es jetzt weiter? In unserer Serie «Du findest Deinen Weg!» stellen wir Ihnen in unregel­mäs­sigen Abständen aussergewöhnliche Berufsperspektiven für Mediziner vor. In dieser Ausgabe gibt Dr. med. Ida Scholl Einblick in ihre Aufgaben als Fliegerärztin bei der Swiss.
Name: 
Dr. med. Ida Scholl
Alter:
43
Funktion:
Flugmedizinerin
Tätig bei der Swiss seit:
2017
Weiterbildung:
Innere Medizin und Flugmedizin
Ida Scholl, gab es bei Ihnen diesen Moment der Erkenntnis «Flugmedizin – das ist es!»?
Nein, ich wusste gar nicht, dass es diesen Beruf gibt. Mag sein, dass zarte Bande zur Fliegerei schon in meiner frühen Kindheit durch regelmässige Flugreisen ­geknüpft wurden. Doch es war wohl eher eine günstige Fügung, die mich 2017 zur Swiss führte. Nach dem Facharzttitel für Allgemeine Innere Medizin arbeitete ich u.a. als Oberärztin und in einer Hausarztpraxis, aber beides war auf lange Sicht unter den gegebenen Umständen nicht das Richtige für mich. So bewarb ich mich um die ausgeschriebene Stelle bei der Swiss vor allem aus Neugier auf die grosse internationale Firma. Nach zwei intensiven Bewerbungsgesprächen, bei denen u.a. meine Fähigkeit zur Risikobeurteilung getestet wurde, war klar: Ich kann einsteigen und werde die für Aeromedical Examiners (AME) verlangten flug­medizinischen Kurse absolvieren.
Wie viel fachliche Weiterbildung braucht es für die Flugmedizin?
Um die beiden flugmedizinischen Kurse besuchen zu können, braucht es einen Facharzttitel. Der erste Kurs erlaubt die gesundheitliche Beurteilung von Privat­fliegenden und wird im Fliegerärztlichen Institut (FAI) angeboten. Der zweite Kurs – zehn prall gefüllte Stu­dientage in Frankfurt – ist den Berufspilotinnen und ­-piloten gewidmet. Nach einer Prüfung, einem zwei­tägigen Praktikum in einem Aeromedical Center und einer gewissen Anzahl flugmedizinischer Untersuchungen kann man sich beim Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) als Flugmedizinerin akkreditieren lassen. Für Neulinge ist bei den Untersuchungen eine enge Begleitung durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen nötig. Es gibt einen vorgeschriebenen Untersuchungsumfang, jedoch hat letztlich jeder Patient seine eigene Geschichte. Man muss wissen, worauf zu achten ist – hier hilft die klinische Erfahrung. Unsere Untersuchungen werden vom BAZL überwacht, und dies nicht nur in der Einführungsphase.
Müssen Sie als Fliegerärztin selber fliegen können?
Nein, doch ich betrachte dies nicht als Nachteil, gerade im Setting einer Airline mit direkter Einsicht in das operationelle Fluggeschehen. Aber man sollte sich in jedem Fall mit den Arbeitsbedingungen seiner fliegenden Klientel sehr gut vertraut machen, um die wirklich zahlreichen gesundheitsrelevanten Einflussfaktoren besser einschätzen zu können. Innerhalb der Airline kann man sich ­einen Teil davon ganz praktisch durch sogenannte Obser­ver­flights und den berufsübergreifenden Austausch aneignen. Zudem ergibt sich ein grosser Lerneffekt aus den komplexen Swiss-internen Prozessen. Bei diesem Aspekt des Berufs ist für mich echte Neugier das Wichtigste.
Was ist für Sie der besondere Reiz an Ihrem Metier?
Mir gefällt die Begeisterung fürs Fliegen, die man bei den allermeisten Klienten spürt. Die wollen um jeden Preis in die Luft! Diese grosse Arbeitsmotivation ist ein deut­licher Gegensatz zum Wunsch nach Krankschreibung, dem ich in der Hausarztpraxis allzu oft begegnete. Weiter faszinieren mich natürlich die grossen Maschi­nen … Ich finde die technischen Aspekte der Fliegerei unglaublich spannend, frage während des «Medical Checks» immer auch gerne technische oder flie­gerische Aspekte nach. Hier komme ich mit meinen naturwissenschaft­lichen Interessen definitiv auf meine Kosten.
Früh übt sich: Ida Scholl mit 6 Monaten auf dem Arm eines Captains der Malta Air.
Was sind Ihre Hauptaufgaben als Fliegerärztin?
Hier muss ich vorausschicken, dass meine Stellung als AME bei einer Airline etwas speziell und seit Covid-19 nochmals anders ist: Gefühlt ändert sich stündlich ­etwas und erfordert rasche Anpassungen, die bei einem so grossen Betrieb hoch komplex sind und die Zusammenarbeit verschiedener Departemente verlangt. Stichworte sind hier Reiserestriktionen oder der Umgang mit diversen Aspekten der Maskenpflicht. Im Normalfall untersuche ich Pilotinnen und Piloten, Flight Attendants, Fluglotsen, Aircrafttechnikerinnen und Schichtarbeitende des Flughafens Zürich und diskutiere komplexe Fälle in unseren täglichen Ärzte­rapporten. Zu unseren Aufgaben gehört neben reisemedizinischen Beratungen auch die Abklärung des Unterstützungsbedarfs von Passagieren, die gesundheitlich beeinträchtig sind. Wenn dies nicht vor dem Flug und idealerweise auf Initiative der Passagiere möglich ist, werden wir im Zweifel auch direkt vom ausländischen Gate oder vom Captain kontaktiert. Eine meiner weiteren Aufgaben sind regelmässige Schulungen für Piloten, die von Kurz- auf Langstrecke wechseln. Sie müssen mehr wissen über Tropenmedizin und den Umgang mit einem durch Jetlag und Shiftlag strapazierten Biorhythmus. Ferner bin zuständig für die medizinischen Flugrapporte, die mir wohl den direktesten Einblick ins Fluggeschehen bieten.
Inwiefern?
In der Fliegerei muss über jeden Zwischenfall berichtet werden, das gehört zur Safety- bzw. Fehlerkultur: So können Systemschwächen besser erkannt und behoben werden. Über die Medical Reports erfahre ich, mit welchen medizinischen Ereignissen sich die Crew auf dem Flug auseinandersetzen musste. Das geht von der banalen Übelkeit über eine Reanimation bis zu ausfälligen oder auch handgreiflichen Passagieren, die nicht selten zu viel Alkohol oder Medikamente konsumiert haben.
Wie lassen sich gesundheitlich bedingte Zwischenfälle in der Luft verhindern?
Grundsätzlich hat die IATA (International Air Transport Association) gesundheitliche Themen definiert, für die eine medizinische Clearance erforderlich ist, sprich, der Passagier muss sich im Vorfeld bei uns melden. Ein spezieller Fragebogen (SAFMEDIF) muss dann auch vom behandelnden Arzt ausgefüllt und unterschrieben sein. In der Folge evaluieren wir weitere flug­medizinische Abklärungen. Definitiv abgelehnt wird ein Passagier nur sehr selten, z.B. bei einem schwerwiegenden Problem, welches eigentlich einen Transport mit einer Repatriierungsairline erfordert – ein komplikationsloser Flug ist ja letztlich auch im Sinne des Passagiers. Und ganz klar muss das mutmassliche Risiko auch für die Mitpassagiere, die Crew und die Airline vertretbar sein. Gerade bei psychischen Problematiken lohnt sich ein Telefonat mit dem behandelnden Kollegen. So ist etwa Fliegen bei medikamentös nicht stabil eingestellter Schizophrenie auch mit ärztlicher Begleitung vorsichtig zu beurteilen. Man vergisst oft, dass beim Fliegen Lärm, Enge und unbekannte Geräusche starken Stress verursachen können, gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Flugmedizin

Um die Fluglizenz aufrechtzuerhalten, müssen sich Privat- und Berufspiloten sowie Flight ­Attendants oder Fluglotsen periodisch fliegerärztlich untersuchen lassen. Die gesundheitlichen Anfor­derungen für die Flugtauglichkeit sind in den Medical Rules der European Union Aviation Safety Agency (EASA) festgehalten, der Untersuchungsumfang ist je nach Alter und Kategorie vorgeschrieben. Durchgeführt werden fliegerärztliche Untersuchungen entweder an einem ­Aeromedical Center (Kloten, Dübendorf und Genf) oder durch Fliegerärztinnen und -ärzte in der eigenen Praxis. Beide stehen unter der Aufsicht des Bundesamtes für Zivilluftfahrt (BAZL).
Was sind schwierige Momente bei Ihrer Arbeit?
Wenn ich Angehörigen von Auslandschweizerinnen am Telefon erklären muss, warum wir die finalkranke Mutter nicht auf einem Linienflug repatriieren können. Persönlich können wir die Gründe meist sehr gut nachvollziehen, jedoch müssen wir die Flugsicherheit höher bewerten. Und dann natürlich, wenn ich jemandem sagen muss, dass sie oder er beruflich nicht mehr fliegen darf. Das ist etwas vom Schwersten, denn damit wird das meist mit Leidenschaft ausgeübte Berufs­leben beendet. Eine solche Entscheidung wird vorab eingehend und mehrmals im Ärzteteam diskutiert. ­Jemandem seine oder ihre Fluguntauglichkeit zu vermitteln erfordert viel Einfühlungsvermögen, genaue Erklärungen und mehrere Gespräche.
Flugmedizin ist demnach viel Teamwork?
Unbedingt, speziell bei einer Airline. In der Diskussion mit den Vertreterinnen und Vertretern der anderen Abteilungen, insbesondere natürlich der fliegenden Berufe selber, erweitert man stets seine Sicht. Gibt es neben medizinischen auch operationelle, organisatorische oder rechtliche Ansätze? Beispielsweise wenn es um die Wiedererteilung der Flugtauglichkeit oder die schrittweise Arbeitsreintegration nach einem Unfall oder einer längeren Krankheit geht. An den interdisziplinären Roundtables mit Kollegen des HR, des Health Case Managements, allenfalls auch mit Psychologinnen und Vertretenden der Flottenführung finden wir oft Lösungen, auf die man allein nicht gekommen wäre. Wir AMEs unterstehen aber wie alle Ärztinnen und Ärzte der Schweigepflicht, auch gegenüber dem gemeinsamen Arbeitgeber. Für eine interdisziplinäre Besprechung kann uns der Klient davon entbinden, was dem Gesamtverständnis einer Gesundheitssituation und der lösungsorientierten Diskussion dient.
Aeromedical Examiner (AME) Ida Scholl ist fasziniert von ­grossen Flugmaschinen.
Wann praktiziert jemand in Ihren Augen gute ­Flugmedizin?
Als Fliegerärztin muss ich mich für die Materie inter­essieren und mich damit auseinandersetzen wollen, in all ihren Facetten: personell, technisch, physisch, psychisch etc. Nur wenn ich die Arbeitsumgebung und ihre Anforderungen kenne, verstehe ich, weshalb ein – am Boden harmloses – Gesundheitsproblem in der Luft ernsthafte Konsequenzen haben kann. Zum Beispiel darf ich den lädierten Fuss eines Piloten nicht ­bagatellisieren – dieser Fuss könnte beim Tritt ins Pedal oder während einer Evakuation nicht ausreichend Kraft haben. Die linke Hand hat beim Captain eine ­andere Aufgabe als beim Copiloten, eine Kurzstrecken­pilotin erfährt andere Belastungen als eine Langstreckenpilotin, die Cabincrew wiederum ist viel näher an den Kundinnen und Kunden …
Was sind neben den fachlichen die institutionellen Herausforderung für Aeromedical Examiners?
Fliegerärztinnen und -ärzte müssen sich ihrer verschiedenen Rollen bewusst sein und die Spannungen dazwischen austarieren können. Grundsätzlich steht für mich als Ärztin ja die Gesundheit und ein gutes Vertrauensverhältnis mit dem fliegenden Personal an erster Stelle. Doch gleichzeitig muss ich meine flugmedizinischen Entscheidungen vorschriftsgemäss vertreten – in meinem Fall also gegenüber den Fliegenden und dem BAZL, aber auch gegenüber der Airline. Ich versuche stets eine Lösung zu finden, die im Sinne der Flugsicherheit möglichst gemeinsam getragen werden kann. Oft kann man vorhandenen Interpretationsspielraum ausloten und auch im Austausch mit dem BAZL passende Massnahmen und Auflagen erwägen. Diese können es Pilotinnen und Piloten ermöglichen, trotz einer Beeinträchtigung zu fliegen, ohne die Flugsicherheit zu gefährden. Um die manchmal unterschiedlichen Ansichten in Einklang zu bringen, hilft auch hier echtes Interesse bezüglich der beruflichen Position und persönlichen Haltung des Gegenübers. Auf diese Weise hoffe ich, trotz meiner Aufgabe als Flugtauglichkeitsbeurteilende eine vertrauensvolle und aufrichtige Atmosphäre zu schaffen.
Haben Sie als Mediziner auch einen aussergewöhnlichen Beruf, den Sie unseren Leserinnen und Lesern gern vorstellen möchten? Dann freuen wir uns auf Ihre E-Mail an: redaktion.saez[at]emh.ch
fabienne.hohl[at]wirktext.ch