Stellungnahme der SGSPP

Gewalt und Missbrauch im Leistungssport

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2020/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19405
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(5152):1725-1727

Affiliations
Dr. med., Präsident Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie SGSPP, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, ­Privatklinik Wyss AG, Psychiatrische Dienste Graubünden

Publiziert am 15.12.2020

Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie SGSPP zu Gewalt und Missbrauch im Leistungssport und zur Berichterstattung «Die Magglingen Protokolle» im «Das Magazin» vom 1. November 2020: Die SGSPP nimmt Anteil an dem Leid der Opfer von Gewalt und Missbrauch jedweder Form, im Leistungssport und in der Allgemeinbevölkerung.
All athletes have a right to engage in ‘safe sport’, defined as an athletic environment that is respectful, equitable and free from all forms of nonaccidental violence to athletes. Yet, these issues represent a blind spot for many sport organisations through fear of reputational dam­age, ignorance, silence or collusion.
All forms of harassment and abuse breach human rights and may constitute a criminal offence. Therefore, there is a legal and moral duty of care incumbent on those who organise sport, to ensure that risks of nonaccidental violence are identified and mitigated [1].
Die SGSPP unterstützt die Position im International Olympic Committee consensus statement: harassment and abuse (non-accidental violence) in sport [1]. Das ­Risiko von Gewalt und Missbrauch im Leistungssport bedarf Richtlinien und Verfahren, um Athletinnen und Athleten zu schützen [1, 2].

Gewalt und Missbrauch im Sport

Gewalt und Missbrauch im Sport betreffen alle Athletinnen und Athleten jeden Alters, in allen Sportarten und auf jedem Leistungsniveau [2]. Psychischer, körper­licher und sexueller Missbrauch sowie Vernach­lässigung ­treten im Sport allein oder in Kombination, einmalig, kontinuier­lich und wiederholt auf, manifestieren sich durch verschiedene Mechanismen, direkt und indirekt, und müssen immer auch im kulturellen Kontext betrachtet werden [2]. Ein hohes Risiko, Opfer psychischen, körperlichen und sexuellen Missbrauchs und Gewalt zu werden, das mit dem Karriere- und Leistungsfortschritt zunimmt, wurde für alle Leistungssportlerinnen und Leistungssportler beschrieben ­sowie für minder­jährige, Para- und LGBTQIA*-Athletinnen und -Athleten (lesbian, gay, bisexual, transgender/transexual, queer/questioning, intersex, and allied/­asexual/aromantic/agender) [1–3]. Psychischer Missbrauch ist die häufigste Form von Gewalt im Leistungssport [2]. Stafford et al. berichteten eine Prävalenz von psychischem Missbrauch bei jungen Athletinnen und ­Athleten in der Grössenordnung von 75% [4]. Täterinnen und Täter von ­Gewalt im Sport können unter anderem Mitglied des ärztlichen und Trainerteams sowie Peers und Trainings- und Teamkolleginnen und -kollegen sein. Eine erhebliche Dunkelziffer von Gewalt und Missbrauch im Sport wird angenommen [2].
Die Folgen von Gewalt und Missbrauch für die psychische Gesundheit sind verheerend, langjährig und können nach Reardon et al. im Sport einhergehen mit weniger Leistung und Erfolgen, frühem Ausscheiden aus dem Sport, Minderung des Selbstwertes, Störungen des Körperbildes, gestörtem Essverhalten und Essstörungen, Substanzgebrauchsstörungen, Depressionen, Ängsten, Selbstschädigungen und Suiziden [2]. Darüber ­hinaus ist die Bereitschaft, zu betrügen und zu dopen, im Zusammenhang mit Gewalt im Leistungssport erhöht; zudem korreliert psychischer Missbrauch im Kindes­alter mit langjährigen, komplexen posttraumatischen und dissoziativen Symptomen [2]. Gewalt und Missbrauch im Sport betreffen die Opfer und das Umfeld der Opfer genauso, wie die persönlichen und sozialen Beziehungen der Opfer, auch ausserhalb des Sports [5].

Psychiatrisch-psychotherapeutische Expertise und interdisziplinäres Vorgehen

Die Möglichkeit der Gewalterfahrung, innerhalb und ausserhalb des Sports, sollte von Klinikerinnen und Klinikern, bei denen sich Athletinnen und Athleten mit psychischen Symptomen vorstellen, erwogen und erfragt werden [1]. Gewalt und die psychischen Folgen von Gewalt und Missbrauch als solche zu erkennen, mit der Offenlegung durch die Betrof­fenen umgehen zu vermögen sowie die schwer­wiegenden psychischen Folgen und Traumafolgestörungen bedürfen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Expertise und eines interdisziplinären Vorgehens, das das Umfeld der ­Opfer mit einschliesst [2, 5].
Gewalt und Missbrauch im Sport erfordern die Entwicklung und Implementierung effektiver Massnahmen im Leistungssport [1]. Die vorliegende Evidenz zu Gewalt im Sport und entsprechende Empfehlungen werfen aber auch die Frage auf, warum wirksame Massnahmen, nicht nur durch die Verbände und Vereine, sondern aller Verantwortlichen im Schweizerischen Leistungssport und im gegenwärtigen Versorgungsmodell, bisher nicht umgesetzt wurden oder gegriffen haben. Prävention ist zentrales Element in der Entwicklung und Implementierung effektiver Massnahmen gegen Gewalt und Missbrauch, aber auch für die Erhaltung und Förderung der psychischen Gesundheit im Leistungssport. Prävention sollte integraler Bestandteil in den Versorgungskonzepten sein, bedarf aber genauso wie Diagnostik, Therapie und Nachsorge einer entsprechenden klinischen Expertise und Qualifikation. Den Risikogruppen für Gewalt und Missbrauch im Sport sollte in der Prävention eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.
Die in den «Magglingen-Protokollen» beschriebenen Vorfälle müssen transparent aufgeklärt werden. Ebenso wichtig ist die Erarbeitung und Implementierung präventiver Massnahmen zum Schutze aller ­Athletinnen und Athleten, in allen Verbänden und Vereinen, wie sie beispielsweise durch das International Olympic Committee consensus statement: harassment and abuse (non-accidental violence) in sport auf Ebene der Sportorganisationen, Athletinnen und Athleten, Sportmedizin und verwandten Fachgebiete sowie in der Forschung beschrieben wurde [1].
Ein systematischer, einrichtungsübergreifender Ansatz, der Athletinnen und Athleten, ihr Umfeld, medizinische und therapeutische Behandlerinnen und Behandler, Ausbildnerinnen und Ausbildner sowie Strafjustizbehörden mit einschliesst, wird empfohlen [1].
Die Ethik-Charta von Swiss Olympic und der Verhaltenskodex für Trainerinnen und Trainer sind verbindlich einzuhalten [6]. Die, unter Leitung des International Centre Ethics in Sport proklamierten Prinzipien zum Schutz minderjähriger Athletinnen und Athleten, Qualität, Prävention und Gefahrenabwehrmassnahmen, sollten im Sinne der Transparenz ebenso verbindlicher Teil jeder Verbands- und Vereinsstruktur sein [7].

Sportmedizinische und sportpsychia­trische Untersuchung

Eine jährliche Überprüfung möglicher Grenzüberschreitungen gegenüber Athletinnen und Athleten sollte in die sportmedizinische Untersuchung SPU in der Schweiz integriert werden. Bei Verdacht auf Gewalt und Missbrauch sollte stets eine niederschwellige, ­qualifizierte Anlaufstelle für Betroffene, wie auch für ­deren Umfeld und professionelle Helferinnen und ­Helfer gewährleistet sein und eingeschaltet werden, bevor erste Behandlungsschritte erfolgen.
Fachärztinnen und -ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und für Psychiatrie und Psychotherapie, mit einer Expertise im Bereich der Traumafolgestörungen und optional in Sportpsychiatrie und -psychotherapie, sollten integraler Bestandteil, in einem interdisziplinären, medizinischen Umgang mit Gewalt und Missbrauch im Leistungssport und den schwerwiegenden psychischen Folgen sein; in ­Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Die Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit im Leistungssport bedürfen aber bereits unabhängig der beschriebenen Problematik der Gewalt und des Missbrauchs im Sport, der Integration einer qualifizierten medizinischen Fachdisziplin für die psychische ­Gesundheit in den Versorgungskonzepten im Leistungssport. In jedem grossen Verband und Verein bedarf es darüber hinaus einer entsprechenden Koordinationsstelle Sportpsychiatrie und -psychotherapie.
Die SGSPP ist bereit, einen substantiellen Beitrag zu leisten, und spricht sich für interdisziplinäre Präventions- und Behandlungskonzepte gegen Gewalt und Missbrauch sowie zur Förderung der psychischen Gesundheit im Leistungssport aus.

Das Wichtigste in Kürze

• Die Aufarbeitung der Geschehnisse in Magglingen gebietet auch einen kritischen Umgang mit den Versorgungskonzepten im Leistungssport.
• Fragen zur Qualifikation und Kompetenz der Verantwortlichen im Erkennen von und Umgang mit Gewalt und Missbrauch sind zu beantworten, wie auch, ob der Umgang mit den schwerwiegenden psychischen Folgen empirisch begründet und Leitlinien-konform erfolgte.
• Die körperlichen und psychischen Folgen von Gewalt und Missbrauch gebieten eine nachweisliche klinische und medizinische Kompetenz, die eine psychiatrisch-psychotherapeutische und bei Minderjährigen eine kinder- und jugendmedizinische Expertise zwingend miteinschliesst. Die störungs- und erkrankungsspezifische Expertise sollte immer massgebend sein.

L’essentiel en bref

• Pour analyser les événements survenus à Macolin, il est ­nécessaire d’adopter une approche critique face aux concepts de soutien dans le sport d’élite.
• La qualification et la compétence des personnes chargées d’identifier et de faire face aux violences et abus doivent être clairement définies. Il convient aussi de déterminer si la réponse face à des conséquences psychologiques graves avait un fondement empirique et était conforme aux directives.
• Les conséquences physiques et psychologiques de violences et abus exigent d’être prises en charge par des compétences cliniques et médicales avérées. Cela inclut nécessairement une expertise psychiatrique et psychothérapeutique et, dans le cas de mineurs, une expertise médicale pédiatrique et adolescente. L’expertise spécifique à la maladie et au trouble devrait toujours être déterminante.
Dr. med.
Malte ­Christian ­Claussen
Sportpsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und ­Psychosomatik ­Psychiatrische ­Universitäts­klinik Zürich ­Lenggstrasse 31 CH-8032 ­Zürich
malte.claussen[at]pukzh.ch
1 Mountjoy M, Brackenridge C, Arrington M, Blauwet C, Carska-Sheppard A, Fasting K, et al. International Olympic Committee consensus statement: harassment and abuse (non-accidental ­violence) in sport. Br J Sports Med. 2016;50(17):1019–29.
2 Reardon CL, Hainline B, Aron CM, Baron D, Baum AL, Bindra A, et al. Mental health in elite athletes: International Olympic Committee consensus statement. Br J Sports Med. 2019;53(11):667–99.
3 Schneeberger AR, Gupta R, Flütsch N, Recher A. LGBTQI and sports – future implications for sports psychiatry. Sport & Exercise Medicine Switzerland. 2020;68(3):28–9.
4 Stafford A, Alexander K, Fry D. ‘There was something that wasn’t right because that was the only place I ever got treated like that’: Children and young people’s experiences of emotional harm in sport. Childhood. 2015;22:121–37.
5 Mountjoy M. ‘Only by speaking out can we create lasting change’: what can we learn from the Dr Larry Nassar tragedy? British journal of sports medicine. 2019;53(1):57–60.
6 Swiss Olympic [Internet]. Ethik-Charta – Neun Prinzipien für den Schweizer Sport; c2015 [cited 2020 Nov 12]. spiritofsport.ch/­verbaende/werte-ethik/ethik-charta
7 Safeguarding Youth Sport project consortium (International Centre Ethics in Sport) [Internet]. Safeguarding Youth Sport – Stimulat­ing the individual empowerment of elite young athletes and a posi­tive ethical climate in sport organisations; c2015 [cited 2020 Nov 12]. fis.dshs-koeln.de/portal/de/projects/safeguarding-youth-sport(6ced66d5-b3e7-4c05-a648-24682b35d021).html