Periodik der Paradigmenwechsel

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19443
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(50):1677

Publiziert am 08.12.2020

Periodik der Paradigmenwechsel

Paradigmenwechsel ereignen sich periodisch: Hippokrates, Jesus, Galilei, Luther, Descartes, die Französische, bolschewistische und Industrielle Revolution, die Erklärung der Menschenrechte waren Paradigmenwechsel, ehe der Begriff existierte. Ich persönlich nahm den Begriff mit Frederic Vesters Neuland des Denkens wahr, dann mit der New-Age-Bewegung, Ken Wilbers Bewusstseinsforschung und Fowlers Glaubensentwicklung, um nur einige zu nennen. Im Nachhinein werden diese Paradigmenwechsel als grosse Entwicklungsschritte der Menschheit und Verdienst ihrer Protagonisten gefeiert.
Sind sie aber so glücklich verlaufen, wie wir sie rezipieren? Rouven Porz spricht in seinem Artikel Paradigmenwechsel von Wertekonflikt. In der Tat trachtet jede Gesellschaft zunächst nach Erhalt der bestehenden Werte, Normen, Strukturen und Lebensweise und versucht zunächst, einen Paradigmenwechsel zu verhindern. Dieser setzt erst ein, wenn die alten Werte mit der sich wandelnden Realität nicht mehr vereinbar sind. Das neue Weltbild wird zunächst bewusstseinsfähig, um schliesslich zum Handeln in die neue Richtung anzustiften.
Zurzeit scheinen mir zwei Konfliktfelder besonders aktuell: erstens der von Porz beschriebene Wertekonflikt zwischen Selbstbestimmung und Solidarität, der sich beileibe nicht nur im Gesundheitswesen ausdrückt, sondern auch in der Politik, der Entwicklungshilfe, auf dem Arbeitsmarkt, in der Verteilung des Reichtums, in der Alterssicherung, bei der Sterbehilfe. Der soziale Riss in den USA und die Präsidentenwahl sind die aktuellsten Beispiele.
Zweitens der Konflikt zwischen unserer Lebensweise und der Klimaerwärmung. Zunehmende Wetterausschläge, Naturkatastrophen, Artensterben, Erosion, Wüstenbildung, Schadstoffbelastung der Böden und des Wassers, damit zusammenhängend Armut, Migrationsströme und Kriege um Ressourcen lassen uns unseren Lebensstil in Frage stellen. Hier hat der Paradigmenwechsel schon angefangen, indem die menschliche Verursachung des Klima­wandels allgemein bewusst wurde. Der zweite und entscheidende Schritt ist aber noch kaum auszumachen, nämlich den breiten Willen und die Opferbereitschaft aufzubringen, die Klimaerwärmung wirksam zu bremsen. Ethik, Religion, Wissenschaft – und die Jugend selbst – kämpfen mühsam gegen unsere egoistischen Konsum- und Besitzgewohnheiten. Der Paradigmenwechsel besteht in der Aussicht auf mehr Lebensqualität statt Quantität, auf Kompensation unseres mate­riellen Verzichtes durch mehr Sinngebung, Solidarität und Glück. Wagen wir ihn!