Berührendes Kranksein

Horizonte
Ausgabe
2021/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19387
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(06):225

Affiliations
Prof. Dr. med. et lic. phil., Mitglied der Redaktion Medizingeschichte

Publiziert am 10.02.2021

TOUCH ME I’M SICK. Der Schriftzug springt sofort ins Auge. Er prangt in farbigen Grossbuchstaben auf einem senfgelben T-Shirt, eindringlich, wuchtig, pro­vokativ. Ob der Künstler und Musiker Ross Sinclair das T-Shirt selbst getragen hat? Vorstellbar ist es. Er schuf sein Kunstobjekt 1998. Den Titel übernahm er vom gleichnamigen Stück der amerikanischen Grunge-Band Mudhoney aus dem Jahr 1988. Damals hielt die Immunschwäche Aids die Welt in Atem. Die Krankheit hatte Europa erreicht und bereits Tausende von ­Todesopfern gefordert. Obschon die Ansteckungswege bekannt waren, wurde die Ausbreitung der neuen Krankheit von Schuldzuweisungen, Abgrenzung und Distanz begleitet.
Sinclair, der 1966 in Glasgow geboren wurde, beschäftigte sich vor allem mit der Überwindung von Grenzen. Er brachte seine visuelle Kunst mit Rockmusik zusammen, indem er gleichzeitig als Maler und Musiker auftrat. Und er verliess die konventionelle Ausstellungspraxis in Richtung einer interaktiven Begegnung von Publikum und Künstler. Mit seinem Schaffen bricht Sinclair ­Tabus, löst Emotionen aus und regt zum Nachdenken an. So auch mit diesem Kunstobjekt, dem beschrifteten T-Shirt.

Was macht Krankheit mit uns?

Kranke berührt man nicht. Warum eigentlich? Steht hinter dieser Distanz wirklich stets einzig die rationale Angst vor einer Ansteckung? Was geschieht mit uns, den vermeintlich Gesunden, wenn Kranke sich als krank zu erkennen geben und eine Berührung verlangen? Schreckt diese Forderung ab oder löst sie Mitleid aus? Und was passiert mit mir, wenn ich selber krank wäre und das T-Shirt tragen würde? Was macht Krankheit mit uns Gesunden, mit uns Kranken?

Kultur in ­Epidemiezeiten

Das T-Shirt gab der Ausstellung «‘Touch Me, I’M Sick’ – Kunst blickt auf Krankheit» den Titel, die im Kunstraum Baden zu sehen war und sich feinfühlig und aufwühlend mit sehr unterschied­lichen, doch ausnahmslos ­zutiefst berührenden Werken der Beziehung zwischen Kunst und Krankheit widmete. Im März wurde die Ausstellung jäh von den Massnahmen unterbrochen, die eine Ver­breitung des ­Coronavirus verhindern sollten. Gerade in diesem Kontext hätte das Kunstwerk von Sinclair zu einer kontrovers geführten Auseinandersetzung beitragen können. Denn der Ruf nach Nähe trotz Krankheit, nach Menschlichkeit trotz Angst, kann einem rein ­biologistischen ­Denken fruchtbar entgegenwirken. Und aufzeigen, wie wichtig Kultur in Epidemiezeiten ist.
iris.ritzmann[at]saez.ch