Manuelle Medizin und Chiropraktik

«Wichtig ist, in geübten Händen zu sein»

Tribüne
Ausgabe
2021/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19456
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(09):336-338

Affiliations
Freischaffender Journalist

Publiziert am 03.03.2021

Beide Berufsgruppen behandeln Beschwerden des Bewegungsapparates. Aber ­worin unterscheiden sich Manuelle Medizin und Chiropraktik? Ein Gespräch mit Dr. med. Michael Gengenbacher, Präsident der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin SAMM, und Dr. med. Thomas Thurnherr, Präsident des ­Berufsverbandes ChiroSuisse. Es zeigt: Die Gemeinsamkeiten der beiden Berufsgruppen sind gross.

Die Interviewpartner

Dr. Michael Gengenbacher ist Facharzt für Rheumatologie und Innere Medizin und Ärztlicher Direktor und Chefarzt Bewegungsapparat und Innere Medizin der RehaClinic Gruppe. Seit 2016 ist er Präsident der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle ­Medizin.
Dr. Thomas Thurnherr ist Doktor der Chiropraktik und Geschäftsführer der chiropraktischen Praxis Integri mit Standorten in Bern und Thun. Seit Mai 2019 ist er Präsident von ChiroSuisse, dem Verband der Chiropraktorinnen und Chiropraktoren in der Schweiz.
Herr Gengenbacher und Herr Thurnherr, wenn ich Rückenbeschwerden habe, wann gehe ich dann zu einem Manualmediziner und wann zu einem ­Chiropraktor?
Gengenbacher: Das hängt nicht so sehr vom genauen Beschwerdebild ab, sondern davon, welche Berufsgruppe Ihnen vielleicht schon vertraut ist, mit welcher Sie schon positive Erfahrungen gemacht haben oder ob Sie persönlich ­einen Therapeuten oder eine Therapeutin kennen. Wichtig ist, dass man sich in geübte Hände begibt.
Thurnherr: Da kann ich nur zustimmen. Vielleicht suchen Sie zuerst Ihren Hausarzt oder Ihre Hausärztin auf. Wenn Sie Glück haben, ist er oder sie für die Thematik sensibilisiert, weiss um den Wert der manuellen Therapie und verweist Sie weiter. Ob in Richtung ­Manuelle Medizin oder Chiropraktik, hängt vermutlich wiederum von den persönlichen Beziehungen und Erfahrungen ab.­
Aber sind Manuelle Medizin und Chiropraktik nicht unterschiedliche Methoden?
Thurnherr: Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Es sind keine Methoden, sondern Berufe. Zwei Berufe, die sehr ähnliche Methoden zur Diagnostik und Therapie von Beschwerden des Bewegungsapparates anwenden. Bei der Behandlung kommen vor allem manuelle Therapien zum Einsatz – etwa Mobilisationen und Manipulationen mit oder ohne Impuls.
Beide Berufsgruppen wenden dieselben 
manuellen Methoden an?
Gengenbacher: Insgesamt sind die Methoden sehr ähnlich. Unterschiede ergeben sich am ehesten daraus, wo man die Ausbildung absolviert hat. Ein Manual­mediziner mit Ausbildung in Grossbritannien arbeitet nicht genau gleich wie jemand, der die Ausbildung in der Schweiz oder beispielsweise in Frankreich ab­solviert hat. Im deutschsprachigen Raum wird für die Manuelle Medizin und die Chiropraktik dasselbe Lehrbuch verwendet. Das sagt viel aus über die Gemeinsamkeiten.
Thurnherr: Und vergessen wir nicht: Manuelle Methoden sind ein wichtiger, aber nicht der einzige Teil unserer Behandlung. Untersuchungen zeigen, dass bei ­Patientinnen und Patienten mit Beschwerden des Bewegungsapparates die Beratung der wichtigste Teil ist. Es geht darum, die Menschen zurück in die Be­wegung zu bringen, sie unter anderem betreffend ­gesunde Gewohnheiten zu beraten und sie so zu ­begleiten, dass sie möglichst bald wieder arbeiten können.
Gengenbacher: Das kann ich nur unterstützen. Die Entwicklung ist in den vergangenen Jahrzehnten bei Wirbelsäulenbeschwerden in die falsche Richtung gegangen: zu viele bildgebende Abklärungen, zu viele Medikamente, zu viele Operationen. Auch dies darf wohl als Gemeinsamkeit unserer beiden Berufe bezeichnet werden: Wir stehen für den primär konservativen Weg der Behandlung solcher Krankheitsbilder und kümmern uns um die richtige Triage der betroffenen Patienten.
Bei so viel Gemeinsamkeiten: Was ist dann der Unterschied zwischen Chiropraktik und Manualmedizin?
Thurnherr: Der Unterschied liegt vor allem beim Weg in den Beruf. Die Schweiz hat weltweit das höchste Ausbildungsniveau in der Chiropraktik – ein Hochschulstudium an der Universität Zürich, dem sich eine zwei- bis dreijährige Assistenzzeit anschliesst. Insofern sind Chiropraktorinnen und Chiropraktoren bereits nach dem Studium Spezialisten für den Bewegungs­apparat.
Gengenbacher: Ich sehe auch in der Ausbildung den grössten Unterschied. Manualmediziner haben zuvor eine Facharztausbildung absolviert, etwa in Allgemeiner Innerer Medizin, Rheumatologie oder Physikalischer Medizin und Rehabilitation. Anschliessend haben sie berufsbegleitend eine Zusatzausbildung von mindestens 300 Stunden in Manueller Medizin absolviert und damit ihre Spezialisierung abgerundet. Das ist ein grosser Gewinn etwa für einen Allgemein­mediziner, denn mehr als 20 Prozent aller Beschwerden in der Hausarztpraxis betreffen den Bewegungsapparat.
Thurnherr: Der Manualmediziner hat ja neben der manuellen Therapie seinen angestammten Fachbereich. Der Chiropraktor oder die Chiropraktorin ist im Vergleich dazu stärker spezialisiert, weil er oder sie sich ausschliesslich der Chiropraktik widmet und sich bereits im Studium während über 4000 Stunden explizit mit dem Bewegungsapparat auseinandergesetzt hat. Die erlernten manuellen Techniken erfordern jahrelange Übung und regelmässige Anwendung, damit sie therapeutisch wirksam eingesetzt werden können.
Gengenbacher: Die Bandbreite ist in unserer Berufsgruppe sicher grösser als bei den Chiropraktoren. Es gibt diejenigen, welche die Manuelle Medizin zu ihrer Haupttätigkeit gemacht haben, und andere, die ma­nuelle Methoden vor allem zur Diagnosestellung ­anwenden und die therapeutischen Massnahmen delegieren – sei es an einen Berufskollegen oder Chiropraktor.
Zuweisungen erfolgen demnach eher von der Manualmedizin zur Chiropraktik. Hat das mit der unterschiedlichen Ausbildungsdauer zu tun?
Gengenbacher: Der Chiropraktor startet mit einem Spezialisierungsvorsprung, da er sich bereits im Medizinstudium für diese Richtung entscheidet. Aber ich denke, ausschlaggebend ist, wie geübt man später in der Praxis ist, wie oft man manuelle Techniken anwendet.
Thurnherr: Die beiden Berufe verbindet ja die Kombination aus differenzialdiagnostischer Kompetenz und manuellen Fähigkeiten. Die diagnostische Kompetenz ist bei beiden Berufen im Medizinstudium enthalten. Das muss man beim Vergleich der Ausbildungsdauer auch berücksichtigen. Der Unterschied liegt somit hauptsächlich im Spezialisierungsgrad und der Gewichtung der manuellen Fertigkeiten.
Wie grenzen sich Manuelle Medizin und Chiropraktik von anderen Berufen im Bereich der manuellen Therapie ab?
Gengenbacher: Der Hauptunterschied besteht in der differenzialdiagnostischen Kompetenz. Entsprechend gelten Manuelle Medizin und Chiropraktik als Medizinalberufe, Physiotherapie und beispielsweise Osteo­pathie zählen zu den Gesundheitsberufen.
Thurnherr: Es ist sinnvoll und wichtig, dass es unterschiedliche Berufsgruppen im Bereich der manuellen Therapie gibt. Wie Sie zu Beginn erwähnt haben, Herr Gengenbacher, zeigt die Forschung, dass die patient preference einen Einfluss darauf hat, wie wirksam eine Behandlung ist. Wer gute Erfahrungen gemacht hat mit einer Therapieform oder einer Fachperson, soll weiterhin dorthin gehen. Wir brauchen mehr gut ausgebildete Fachleute, die sich um Menschen mit Beschwerden des Bewegungsapparates kümmern – sowohl aus der Chiropraktik und Manuellen Medizin wie etwa auch aus Physiotherapie und Osteopathie.
Warum?
Thurnherr: Weil die Nachfrage sehr gross ist, diese Beru­fe boomen. Ich leite eine Gemeinschaftspraxis mit zwölf Chiropraktorinnen und Chiropraktoren. Die Nachfrage ist enorm, wir müssen Patienten aus Kapazitätsgründen an andere Praxen verweisen. Die Zahl der Ausbildungsplätze an der Universität Zürich ist bisher gemäss Regierungsratsbeschluss auf jährlich 20 beschränkt. Da werden wir das Gespräch suchen. Unser Ziel ist es, diese Zahl zu erhöhen und in Zukunft in der Romandie ebenfalls einen universitären Studiengang anbieten zu können.
Gengenbacher: Ich kann das für die Manuelle Medizin bestätigen. Die Nachfrage seitens der Patientinnen und Patienten steigt. Ich denke, das hat unter anderem damit zu tun, dass unser Lebensstil immer weniger Bewegung umfasst. Gleichzeitig möchten die Menschen gesünder leben und zum Beispiel weniger Medikamente einnehmen und Operationen vermeiden. Entsprechend suchen sie nach anderen Therapieformen. Zum Glück nimmt auch die Nachfrage nach der Ausbildung in Manualmedizin zu. Heute schliessen jährlich rund 40 bis 50 Ärztinnen und Ärzte die Ausbildung ab. Wir möchten diese Zahl ebenfalls erhöhen.
Chiropraktik und Manuelle Medizin sind kranken­kassenanerkannt. Die Wirksamkeit ist demnach wissenschaftlich nachgewiesen?
Thurnherr: Man muss grundsätzlich sagen, dass die Evidenz bei Therapien von Wirbelsäulenbeschwerden nicht sehr hoch ist. Das gilt für jegliche Massnahmen, inklusive Medikamente. In allen Guidelines wird manuelle Therapie als eine Massnahme empfohlen – als gleichwertig wie alle anderen anerkannten Massnahmen. Ganz wichtig ist, dass wir wie erwähnt nicht nur die Palette an manuellen Techniken anwenden, sondern Patienten auch beratend unterstützen. Insofern ist es methodisch anspruchsvoll zu differenzieren, wor­auf eine Verbesserung der Beschwerden genau ­zurückzuführen ist.
Aber Manuelle Medizin und Chiropraktik 
gehören klar zur Schulmedizin?
Gengenbacher: Manualmediziner sind Mediziner mit einem Schwerpunkttitel, insofern gehört ihr Beruf klar zur Schulmedizin. Manuelle Medizin wie auch Chiropraktik wurden aber in der Vergangenheit von der Schulmedizin zum Teil wenig beachtet und gefördert.
Thurnherr: Historisch hat sich die Chiropraktik ­ausserhalb der Schulmedizin entwickelt. Heute ist die Situation je nach Land etwas anders. In der Schweiz ist unser Beruf stark an die Schulmedizin angelehnt mit dem universitären Studium. Und auch weltweit gehört es zum Selbstverständnis der Chiropraktik, evidenz­basiert zu arbeiten.
Gengenbacher: Wir arbeiten immer öfter an Forschungsprojekten mit und schaffen so mehr Evidenz. Das erhöht wiederum die Akzeptanz seitens der Schulmedizin.
Woran wird aktuell geforscht?
Gengenbacher: Unser Berufsverband arbeitet unter anderem mit der ETH Zürich und anderen Universitäten in Europa zusammen. Eine wichtige Fragestellung ist für uns, bei welchen Indikationen die manuelle ­Therapie sinnvoll und wirksam ist. Schmerz kann ja die unterschiedlichsten Ursachen haben. Eine präzise Differenzialdiagnose ist deshalb wichtig und soll auch mit Forschung gestützt werden.
Thurnherr: An der Universitätsklinik Balgrist gibt es eine Forschungsabteilung für chiropraktische Medizin. Offene Fragen sind etwa: Wie viele Behandlungen sind nötig? Wann ist eine Manipulation die beste Methode, wann eine Mobilisation? Wann ist es angezeigt, mit Psychologinnen und Psychologen zusammen­zuarbeiten? Ausserdem sind wir dabei, mit Kranken­kassen grosse Studien aufzugleisen zur Kosteneffi­zienz und Qualität chiropraktischer Behandlungen.
Gengenbacher: Wir haben beide ähnliche Fragestellungen. Es geht schlussendlich um eine ganzheitliche Sicht auf den Bewegungsapparat und die Einflüsse darauf. Studien sind teuer, und wir können nicht auf die För­derung seitens der Pharmaindustrie zählen. Deshalb ­suchen wir die Zusammenarbeit mit anderen Berufsverbänden der manuellen Therapie in der Forschung.
Beruht das auf Gegenseitigkeit, Herr Thurnherr?
Thurnherr: Unbedingt. Und wir wollen nicht nur in der Forschung zusammenarbeiten. Herr Gengenbacher hat erwähnt, dass unsere Berufsgruppen bisher nicht die nötige Beachtung erhielten. Mit einer vermehrten Zusammenarbeit können wir auch politisch mehr Wirkung erzielen. Es muss unser Ziel sein, im Gesundheitswesen besser repräsentiert zu sein und eine wichtigere Rolle in der Versorgung zu spielen.
Gengenbacher: Wir sehen uns nicht als Konkurrenz, sondern als Partner, die unterschiedlich aufgestellt sind. Bei der Behandlung von Beschwerden am Be­wegungsapparat lief in den letzten Jahrzehnten wie ­erwähnt viel falsch. Wir haben dasselbe Ziel, dies zu ändern. Damit wollen und können wir nicht zuletzt auch die Kosten im Gesundheitswesen senken helfen. Denn Manuelle Medizin und Chiropraktik sind nicht nur wirksam, sondern im Vergleich etwa zu chirurgischen Behandlungen auch kostengünstig.
Schweizerische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin SAMM
ChiroSuisse