«Blütensammler» oder Schulmediziner?

Horizonte
Ausgabe
2021/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19527
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(05):191-192

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publiziert am 02.02.2021

Infolge seiner wissenschaftlich orientierten Prägung sah Dr. Homunculus schlichtweg keinen Grund, das ­eigene, schulmedizinisch geprägte Weltbild auf irgendeine Weise ergänzen zu müssen. Hatten doch die akkurate Beobachtung von Kausalzusammenhängen und die bewährte Trial-and-Error-Methode viele Naturgeheimnisse lesbar gemacht, und den «Göttern in Weiss» äusserst wirksame Instrumente in die Hand gegeben. So verstand denn unser Kollege, im Einklang mit gängigen Lehrmeinungen, die gesamte Natur als an sich sinnloses, auf Ursache und Wirkung beruhendes ­Objekt, das vorab der «Krone der Schöpfung» zu dienen hatte. Ohne solche Positionen wirklich zu hinterfragen zeigte er aber trotzdem eine gewisse Sensibilität seiner Umwelt gegenüber. Angesichts betörend schöner Landschaften und erhabener Bergwelten bezeichnete er sich gerne als Romantiker, und immer wieder ertappte er sich dabei, der Natur Eigenschaften einzuräumen, die aus rationaler Sicht unsinnig erscheinen mussten: schöpferische Kraft zum Beispiel, aber auch eine innere Ordnung und zweckmässige Ausgestaltung oder – wenn sie denn schon beim Klimawandel auf ihre Frevler zurückschlagen sollte – sogar eine gewis­se Handlungsfreiheit. Folgende kollegiale Radio­botschaft aus einem norditalienischen Covid-19-­Hotspot schien diese beunruhigende Spekulation zu bestätigen: «Was das Virus will, ist viel mehr, als wir tun können.»

Grau ist alle Theorie

Natürlich sind Viren keine bewussten Subjekte und haben somit keinen spontanen Willen. Ihr Verhalten ist, wie alle Natur, rein mechanistisch determiniert: Als inaktive Klüngel proteinverpackter RNA werden sie von fremden Organismen, je nach Ansteckungs- und Krankheitsverlauf, mehr oder weniger effizient geklont. So weit, so theoretisch grau. Wer will, der darf es aber bunter haben. So könnte man etwa den Corona­horden nebst einer schmarotzerhaften Lebendigkeit durchaus auch geistige Eigenschaften zuschreiben: ruchlose Heimtücke etwa oder eine geschickte Wachstumsstrategie – in körpernaher Zusammenarbeit mit gesundgeschriebenen Superspreadern. Darüber hinaus erinnern die ubiquitär selbstähnlich hoch­schies­senden, epidemischen Gausskurven recht gut an knospende Blumen und die Patientenscharen an Vogelschwärme, die sich unter gewaltigem Flügelschlagen emporheben, um dann regelmässig wieder in sich zusammenzufallen.

Corona und die «Krone der Schöpfung»

Trotz seiner Herkunft aus der nüchternen Retorte gefielen Dr. Homunculus diese blumigen Metaphern eines dynamischen, sich selbst bestimmenden epidemischen Geschehens. Die naturphilosophisch interessierten Denker Immanuel Kant (1724–1804) und Friedrich Schelling (1775–1854) bestärkten ihn darin. Sie hielten nämlich die gängige, unbestrittenermassen effiziente, wissenschaftliche Betrachtungsweise für un­genügend, um die Natur in ihrer ganzen Vielfalt ver­stehen zu können. Dazu müsse sie vielmehr als einheitliches, auf zweckmässigen Ordnungsprinzipien beruhendes Wesen aufgefasst werden. Der für seine intellektuelle Redlichkeit berühmte Kant liess hier aber grosse Vorsicht walten und sah in solchen Spekula­tionen nur ein allgemein menschliches Bedürfnis, das unsere Naturbeobachtung wohl begleiten müsse, aber niemals in der Lage sei, echte und repro­duzierbare Erkenntnisse zu vermitteln. Dies bleibe den streng verstandesmässigen Unter­suchungsmethoden vorbehalten. Schelling, der Naturphilosoph par excellence, sah das später nicht mehr so eng und erklärte die gesamte Natur kurzerhand zum lebendigen, vernunftbegabten Organismus. Dieser sollte sich dann als Natura naturans seiner inneren Logik gemäss entwickeln – eine Sichtweise, die insbesondere den Dichterfürsten Goethe faszinierte. Natür­liches und Geistiges wurden dabei zu gleich­wertigen Aspekten ein und derselben Sache: die Natur zum sichtbaren Geist und der Geist zur unsichtbaren Natur. Je nach Entwicklungsstufe sollte dann in konkreten Einzelbereichen das eine oder das andere überwiegen: bei der «Krone der Schöpfung» natürlich der Geist, bei Corona wohl eher die Natur.

Intellektuelle Quacksalberei

Solche Geistesgeschichten waren dem rational durchprogrammierten Dr. Homunculus naturgemäss nicht ganz geheuer. Die Einheit natürlicher und geistiger ­Dimensionen, ein Lieblingsthema der Romantiker, liess sich ja noch irgendwie verstehen oder wenigstens erahnen. Schellings Behauptung, dass selbst in leb­loser Materie, also wohl auch in Viren, eine Art von Geist hause, grenzte aber doch an intellektuelle Quacksalberei. Die Naturphilosophie ist eben keine Naturwissenschaft, sie beschert uns keine wirklichen Erkennt­nisse. Immanuel Kant hatte ihr in dieser Hinsicht auch glasklare Limiten gesetzt: Allen blumigen Illus­trationen zum Trotz bleibe die Natur, wie sie «an sich» sei, ein Buch mit sieben Siegeln. Dr. Homunculus sah das eigentlich genauso und meinte, dass sich diese philosophische Bescheidenheit bei holistisch orientierten Kolleginnen und Kollegen ebenfalls durchsetzen sollte. Er selbst war um Covids willen nicht zum Blütensammler geworden. In seinen schulmedizinisch verdrahteten Algorithmen waren alternative Behandlungsoptionen nämlich gar nicht vorgesehen. Ob das für seine Patientinnen und Patienten stets ein Segen war, darf aber gern bezweifelt werden.
Dr. med.
Jann P. Schwarzenbach
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CH­-6900 Paradiso
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