Warum ich keine Ärztin wurde

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19553
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(07):270

Affiliations
Junior-Redaktorin

Publiziert am 16.02.2021

«Grüessech, Herr Dokter.» So begann manche Kon­sultation in der Hausarztpraxis meines Vaters im Emmen­tal. Anamnesegespräche mit Patientinnen und Patienten, das Blutdruckmessen und Untersuchen im Behandlungszimmer waren mir schon von klein auf vertraut. Als Kind durfte ich meinen Vater ab und zu in die Praxis begleiten. Von jeher wissbegierig, spielte es keine Rolle, dass ich den Inhalt der Gespräche nicht wirklich verstehen konnte – der Mikrokosmos der ­Praxis war stets ein aufregender Ort für mich. Ich er­innere mich gut an die anatomischen Modelle, die ­geheimnisvollen Gerätschaften, die freundlichen Praxisassistentinnen, die mir ab und zu Süssigkeiten zugesteckt haben … Später habe ich das Privileg, jederzeit niederschwelligen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben, immer mehr zu schätzen gelernt. Aus­serdem konnte ich mir quasi nebenbei doch ein paar (natürlich äusserst basale) Kenntnisse im medizinischen Bereich aneignen. So konnte ich etwa den Unterschied zwischen Bakterien und Viren, was bei Dia­betikerinnen und Diabetikern im Körper passiert, und andere medizinische Wissenshappen bereits in meiner Kindheit aufschnappen.
In der Schule habe ich aber des Öfteren schmerzlich erleben müssen, dass die ländlich-bäuerlich geprägte Umgebung auch Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre die «Arztfamilie», wie wir manchmal genannt wurden, als relativ andersartig beziehungsweise exotisch wahrgenommen hat.
Viele der Kindheitserinnerungen, die ich mit dem ­Beruf meines Vaters verbinde, sind positiv. Die ärzt­liche Tätigkeit achte und bewundere ich sehr. Von seine­m unglaublichen Arbeitsethos, seinem uner­müd­lichen Einsatz für seine Patienten weit über normale Bürozeiten hinaus sowie von seinem riesigen Erfahrungsschatz haben Patientinnen vieler Generationen profitiert. Viel Positives – aber nicht nur. Denn ebendieses hohe Arbeitsethos hat auch eine Kehrseite. Ausschweifende Arbeitszeiten, Notfalldienste an ­vielen Wochenenden und Feiertagen, ein immenser ­organisatorischer und administrativer Aufwand. Zum Ende der Praxistätigkeit meines Vaters kam für ihn noch der Druck der Nachfolgeregelung hinzu. Der sich schon lange abzeichnende Mangel an Hausärztinnen und -ärzten lässt grüssen … Dies sind vielleicht Gründe, die unterbewusst zu meiner Entscheidung beigetragen ­haben, keine medizinische Laufbahn einzuschlagen.
Der familiäre Einfluss war und ist gross bei mir. Letztlich war aber anderes ausschlaggebender: Beim Lesen konnte ich schon immer dem etwas zu engstir­nigen Emmentaler Dorf entfliehen. Zunächst allerlei Jugendlite­ratur, später faszinierten mich Schiller und Brecht, die Weltkriege oder die aktuelle politische Situation so sehr, dass spätestens nach dem Verfassen meiner ­Maturaarbeit klar war, dass ich Germanistik und Geschichte studieren werde. Die Arbeit handelte übrigens vom Tod als Figur in der deutschen Literatur. Die Literarisierung des ebenso simplen wie unbegreif­lichen Faktums des Todes faszinierte mich. Auch hier könnte ein naturwissenschaftlicher Aspekt zumindest ver­mutet werden. Ein Schelm, wer hinter meiner gewählten Studienrichtung den mütterlichen Einfluss der Deutschlehrerin vermuten würde …
Und jetzt? Neben dem Studium konnte ich erste be­rufliche Erfahrungen im Lektorat sammeln. Die Ausschreibung der Stelle bei der SÄZ passte dann einfach. Täglich Texte unterschiedlicher Autorschaft zu lesen und zu bearbeiten fordert und macht Spass. Das Eintauchen in einen Text, das Arbeiten mit und an der Sprache ist etwas vom Interessantesten, was ich mir vorstellen kann. Denn wie uns Friedrich Dürrenmatt als Einsicht hinterlassen hat: «Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken.»
Doch zurück zur SÄZ. Wenn ich meinen Vater als Kind das «Gelbe Heftli» lesen sah, hätte ich zwar nie gedacht, einmal an dessen Herstellung beteiligt zu sein, aber so schliesst sich der Kreis: meine naturwissenschaftlichen Interessen sind bei der SÄZ bestens bedient (ich denke hier vor allem an die Rubrik «Spec­trum», welche ich ­jeweils zusammenstellen darf), gestalterisch kann ich mich bei der Bildauswahl austoben, und auch was Geschichtliches angeht, bin ich in meinem ersten Jahr in Muttenz mit den Schwerpunktthemen in den Jubi­läumsausgaben auf meine Kosten gekommen.
Ich habe mich zwar dagegen entschieden, Stethoskop und Spritzen selbst in die Hand zu nehmen, der medizinische Kosmos begleitet mich aber auf meinem beruf­lichen Weg bei der SÄZ weiter – und ich bin froh ­darüber.