Die verlorene Volksabstimmung über den Impfzwang von 1882 in der ärztlichen Standespresse

Mit vereinten Kräften gegen die «Vollblutdemocraten»

Horizonte
Ausgabe
2021/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19601
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(09):342-344

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 03.03.2021

Das erste Epidemiengesetz war einer der Hauptgründe für die Gründung des «Ärztlichen Central-Vereins der Schweiz», eines Vorläufers der FMH. Doch bei der Volksabstimmung 1882 wurde das Gesetz wuchtig abgelehnt – vor allem weil es einen Impfzwang mit Strafen von bis zu sechs Monaten Gefängnis beinhaltete. Die Reaktionen auf diesen Denkzettel im einstigen Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte [1] zeigen, dass es den damaligen Ärzten bei der «Impffrage» um viel mehr als nur das Impfen ging.
Der Central-Verein und seine «Ärztekommission» [2] hatten sich für den Gesetzentwurf ins Zeug gelegt. Anfang des Jahres 1882 herrschte auch noch Freude im Correspondenz-Blatt, als es meldete, der Nationalrat habe das Gesetz gerade mit grossem Mehr angenommen. Das Zürcher Stimmvolk hatte sich zwei Jahre zuvor mit 55 Prozent eher knapp für die Beibehaltung des kantonalen Impfzwangs ausgesprochen.
Skepsis gegenüber der Sicherheit und Wirksamkeit der Pockenschutzimpfung hatte es in der Bevölkerung und bei einzelnen Ärzten immer gegeben. Doch nun war der Ton deutlich rauer geworden. Zusätzlich zu ­einer verbreiteten Skepsis traten überzeugte Impfgegner jetzt organisiert auf und liessen an der Pockenschutzimpfung in der Regel kein gutes Haar. Impfzwangsgegner setzten sich für die individuelle Entscheidungs­freiheit in dieser Sache ein. Für die von der Impfung überzeugte Ärzteschaft war die breit ­angelegte Immunisierung der Bevölkerung dagegen ein Kernbestandteil ihrer Berufspolitik. Euphorisch betonten sie das Positive, bestehende Risiken wurden diskreter abgehandelt. Die Ärzteschaft beteiligte sich hochemotional am Abstimmungskampf, die heute wie eine Schlammschlacht erscheint. Das Correspondenz-Blatt warf Gegnern des Gesetzes pauschal «Böswilligkeit», «Vorurtheil» oder «Indolenz» vor und sprach von der «trüben Fluth einer fanatischen und gewissenlosen Agitation».
Je näher die Abstimmung rückte, umso mehr befürchtete die Ärzteschaft die «entsetzliche Wahrheit» des Scheiterns ihres Gesetzes. In einem letzten Appell rief das Standesblatt dazu auf, nun nicht mehr nur in der Sache, sondern auch in der Form alle Rücksicht und ­Zurückhaltung aufzugeben gegenüber den «hohlen Phrasen einiger bramarbasirender Buhler um die Volksgunst».

Die Impfung als Kristallisationskern

Am Tag der Entscheidung, dem 30. Juli 1882, kam es dann noch viel schlimmer als befürchtet. 80 Prozent der abstimmenden Schweizer schickten das Gesetz bachab [3]. In Uri waren gerade einmal zwei Prozent ­dafür. Einzig im Kanton Freiburg fand die Vorlage mit zwei Dritteln eine Mehrheit. Neben den Bedenken ­gegenüber der Impfung selber dürften gerade auch Vorbehalte gegen den harschen staatlichen Zwang sowie gegen die Zentralisierung der Gesetzgebung für die Entscheidung verantwortlich gewesen sein.
Nach dem Debakel reagierte im Standesblatt zuerst der für den Impfzwang engagierte Basler Kollege Theophil Lotz mit schon fast sarkastischem Unterton. Nicht nur die «landläufige Impfgegnerei, welche den Streit ­begann» sei ursächlich für den Fall des Gesetzes. Neben den «impffreundlichen Gegnern des Zwangs» seien vor allem die «gedankenlosen Neinsager» und die Vertreter der «Centralisationsfurcht» verantwortlich zu machen. Das Ergebnis sei zudem «ein neues Beispiel der alten Erfahrung, dass die Wahrheit weniger leicht Eingang findet und schwerer haftet als ihr Gegenteil».
In einem Folgeartikel führte die Redaktion des Correspondenz-Blatts das Ergebnis selber ebenfalls auf eine «maasslose Agitation gegen das Impfen» zurück. Vier Fünftel der stimm­fähigen Schweizer Bürger hätten den «unter der fälschlich aufgehissten Flagge des allgemeinen Wohles segelnden Egoisten [...] entgegengejauchzt». Dem Entscheid lägen «wohl in einem ganz ­wesentlichen Theile der ‘Nein’ rein politische und sociale Motive zu Grunde». Der Artikel fragte «mit vollster ­Berechtigung»: «Ist das das Zutrauen, welche das Volk denen schenkt, die jahraus jahrein aufopfernd und unermüdlich an dessen Gesunderhaltung arbeiten, das die Anerkennung für alles, was die Ärzte im Laufe der letzten Jahre im ­Gebiete der Hygieine ­geleistet haben?» In ihrer Wintersitzung schloss die Berner «Medicinisch-Chirurgische Gesellschaft» trotzig: «Vom Volke verkannt, lässt der ärztliche Stand sich nicht entmuthigen, auch künftighin für das Volkswohl in die Schranken zu treten.»

Idealisierung der eigenen Arbeit

Was auf den ersten Blick als Enttäuschung über das ­Verwerfen des ihnen so wichtigen Vorstosses erscheint, lässt bei näherer Betrachtung ganz andere ­Facetten ­erkennen. Die Autoren des Correspondenz-Blatts führten eine reichlich hermetische Erklärung für das Debakel ins Feld: Sie selber sind ohne jeden Zweifel alleinige Vertreter der umfassenden Wahrheit. Aber ein in die Irre geleitetes Volk konnte die Wahrheit nicht erkennen und ist undankbar gegenüber seinen Wohltätern. Hinzu kommt die grobe Herabwürdigung und moralische Ausgrenzung abweichender Meinungen bei gleichzei­tiger Idealisierung der eigenen Arbeit. Beim Lesen ­erstaunt die Starrheit der Positionen, das Schwarz-Weiss-Bild ohne jede Abstufung. Diese Erklärungen des Abstimmungsergebnisses liessen kein Nachdenken über die eigene Position, keine Abwägungen zu. Die ­Autoren sind so sehr in ihrer eigenen Argumentationswelt verankert, dass sie anderen Positionen nicht das geringste Verstehen entgegenbringen können.
Das hatte seine Gründe. Natürlich kämpfte die Ärzteschaft für die Impfung, weil sie zum gros­sen Teil fest von Sinn und Nutzen der Präventionsmassnahme überzeugt war. Wenn man sich die Argumentationen aber genauer ansieht, wird deutlich, dass hier grössere Fragen und fundamentale Interessen zur Debatte standen. Die Impfung war lediglich ihr Kristallisationskern.

Monopolanspruch

Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die akademische Ärzteschaft ihr angestrebtes Monopol auf die Dia­gnose und Behandlung von Krankheiten immer stärker durch. Der Beruf der handwerklichen Wundärzte kam auf den Aussterbe-Etat. Damit verbunden war der Anspruch, in medizinischen Dingen alleine das Sagen zu haben. Auch deshalb beharrten die Ärzte so hart darauf, dem «Volk» – entgegen dessen Mehrheitsmeinung – vorschreiben zu dürfen, was die «Wahrheit» und damit dessen «Wohl» sei. Die meist nichtärztlichen Impfskeptiker standen diesem Monopolanspruch im Weg, weshalb sie umso stärker herabgewürdigt wurden [4].
Mit der Impfung konnte sich die Ärzteschaft auch besser als selbstaufopfernde Wohltäter der Menschheit inszenieren, was ihnen einen herausgehobenen und weniger angreifbaren gesellschaftlichen Status verlieh.
Um diesen Status zu erreichen, bedurfte es aber der ­Geschlossenheit der Ärzteschaft. Nicht zufällig hatte das Correspondenz-Blatt im Frühjahr 1882 noch fest­gestellt, das Epidemiengesetz sei nur viribus unitis, mit vereinten Kräften, durch den Nationalrat gekommen. Es sollte ein Mittel sein, die schweizerische Ärzteschaft zusammenzuschweissen. Im Abstimmungskampf wurde nicht nur jede Kantonalgesellschaft, sondern jeder einzelne Arzt aufgefordert, im Sinne des Gesetzes «fortiter et constanter seine Pflicht zu tun». Ziel war eine «geschlossene Phalanx» der Ärzteschaft, so im letzten Appell vor der Abstimmung. Auch nur leicht abweichende Meinungen störten da. Der damalige Ärztepräsident Jakob Laurenz Sonderegger etwa hielt in seinen Lebenserinnerungen fest, dass er den Erfolg des Epidemiengesetzes absichern wollte, indem das «rote Tuch der Impfparagraphen» in einem gesonderten Gesetz untergebracht würde. Als er damit trotz seinem «lebhaften Protest» nicht durchdrang, trat er nur deshalb nicht aus der entscheidenden Eidgenössischen Sanitätskommission (einer Art BAG-Vorläufer) aus, weil er «alsdann in die Reihen der Impfgegner ­gezählt ­worden wäre». Und dies «verbot mir mein ärztliches Gewissen», so Sonderegger [5]. Die Verbissenheit der ärztlichen Position in der Impfdebatte hatte damit auch standespolitische Ursachen.

Ein zentralistisches und paternalistisches Gesundheitssystem

Nicht nur die Ärzteschaft gewann in dieser Zeit an ­Bedeutung, auch das Medizinische im engeren Sinne bekam mehr eigenständiges Gewicht als andere ­Gesellschaftsbereiche. Aus diesem Grund trennte das Correspondenz-Blatt die «rein politischen und socialen Gründe» für die Ablehnung des Gesetzes von den ­medizinischen ab. Damit konnte der Autor sie ausgrenzen und implizit als nicht massgeblich hinstellen. Den Konflikt zwischen dem Impfzwang und bürgerlichen Freiheiten thematisierten die Autoren nicht als solchen, sondern lediglich, indem sie von einem «übelangebrachten Freiheitsbedürfnis» sprachen. Die Berner Gesellschaft bezeichnete das Argument der persön­lichen Freiheit unter ihrem Vorsitzenden Theodor ­Kocher herabwertend als «unklaren Trieb». Selbst der demokratische Gedanke wurde zum fragwürdigen ­Attribut des herabzuwürdigenden Gegners degradiert: Ein Beitrag aus Zürich für das Correspondenz-Blatt meinte, die «Abschaffung des Impfzwangs war schliesslich zu einem Losungswort für jeden Vollblutdemocraten, die Schulmeister voran, geworden».
Der vorgesehene harte Impfzwang des Epidemiengesetzes stand für ein Gesundheitssystem, das zentralistisch und paternalistisch ausgelegt war. Es ging davon aus, dass das Volk zu wenig «Einsicht» darin habe, was gut für es sei, weshalb es «von oben» herab zu seinem Glück gezwungen werden müsse. Die organisierte schweizerische Ärzteschaft identifizierte sich damit in der Rolle des autoritären und mit der alleinigen Wahrheit ausgestatteten Gesundheitserziehers.
Dass die schweizerische Ärzteschaft zur Impfgesetzgebung eine so harte Position vertrat und auf das daraus entstandene Abstimmungsdesaster so hermetisch reagierte, lag auch daran, dass sie damit ganz spezielle gesundheits- und standespolitische Zielvorstellungen vertrat, die weit über das eigentliche Impfen hinausgingen.
eberhard.wolff[at]emh.ch
1 Für den Artikel wurde die Zeitschrift zwischen Anfang 1882 und Mitte 1883 ausgewertet. Einzelnachweise der Zitate im Text gerne auf Anfrage.
3 Ritzmann I, Wolff E. Abfuhr für den Impfzwang. SonntagsBlick Magazin. 2021(10. Januar):18–9. www.blick.ch/life/wissen/1882-gewannen-impfskeptiker-abfuhr-fuer-impfzwang-id16285311.html. Langer L. Impfung und Impfzwang zwischen persönlicher Freiheit und Schutz der öffentlichen Gesundheit. Zeitschrift für Schweizerisches Recht. 2017;136:87–114. www.zora.uzh.ch/id/eprint/136340/
4 Steinmann I. Impf-Alltag im 19. Jahrhundert. Das Verhältnis zwi­schen Ärzten und Bevölkerung vor dem Hintergrund der Pockenschutzimpfung im Kanton Luzern. Gesnerus. 1995;52:66–82. www.e-periodica.ch/cntmng?pid=ges-001:1995:52:400
5 Vom Fanatismus gegen die Impfung. Schweiz Ärzteztg.
1924;5(9):71–2. Dank an Matthias Scholer für den Hinweis.