«Minds in Medicine»

Tribüne
Ausgabe
2021/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19614
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(10):371-373

Affiliations
a Dr. med., Leitende Ärztin Psychosomatische Rehabilitation Clinica Curativa Scuol, Stiftungsrätin Stiftung für psychosomatische, ganzheitliche Medizin, Rheinfelden; b Dr. med., Co-Chefarzt Clinicum Alpinum Gaflei, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, FMH, Facharzt (D) für Psychosomatische Medizin, ­Dozent am ­Institut für Humanwissenschaftliche Medizin, Zürich

Publiziert am 09.03.2021

Das Berufsbild des Arztes als Begleiter in der Krankheit scheint zu verschwinden. Kann es gelingen, den geistigen und philosophischen Anteil der Medizin wieder zu aktivieren? «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn im Arztberuf» und «Ökonomie versus Würde» waren Titel zweier Tagungen von «Minds in Medicine», an denen sich Ärztinnen und Ärzte aus unterschiedlichen Sparten im Tessin trafen, um ihr Berufsbild vor dem Hintergrund sich ­stetig verändernder Anforderungen zu diskutieren.

Die Tagung «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn»

Wie man den Beruf des Arztes oder der Ärztin wieder mit «sinnhaftem» Inhalt füllen kann, anstatt resigniert zu ertragen, dass dieser in der Erledigung von «unattraktiven Fleissaufgaben» (Prof. Giovanni Maio) seine Beschränkung erfährt, war Thema der ersten ­Tagung im Jahr 2018. Der Initiator von «Minds in Medicine» Dr. ­Michael Holzapfel leitete sie ein mit Gregory Bateson und seiner Idee von «Mind» (vgl. Ökologie des Geistes). Mit «Et in Arcadia Ego» – Goethes Sehnsuchtsraum der vollendeten Sinnlichkeit – schlug er die Brücke zu den Sinnen, aber auch zum Resonanzraum des Südens, wie er im Tessin bereits zu erahnen ist. Ort der ersten ­Tagung war die Fondazione Eranos, wo sich in den dreis­siger Jahren des letzten Jahrhunderts unter anderem C. G. Jung, der Naturphilosoph Friedrich Dessauer und der Physiker Erwin Schrödinger getroffen hatten.
Als Gastredner referierte an der Tagung Prof. Iso Camartin zum Thema «Die Sinne cis und trans der Alpen» mit philosophischen Betrachtungen über die Sinnlichkeit. Er eröffnete den ideengeschichtlichen Hintergrund zu den Begriffen, welche als Motto die Tagung begleiteten: die Sinne, die Sinnlichkeit und der Sinn.
Der Monte Verità oberhalb von Ascona, Ort der Tagung «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn im Arztberuf».

Mehr als Daten und Fakten

Klare Worte zur schwelenden Sinnkrise im Arztberuf fand Prof. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg (D). Er erachtet Bewegungen wie «Minds in Medicine» als notwendig, weil Mediziner sich gegen die Degradierung und Inhaltsentleerung ihres Berufes zur Wehr setzen sollten. Die «funktionierende Medizin» habe zum Ziel, eine Effizienzsteigerung durch vorgefertigte Handlungsanweisungen anzustreben, welche die Austauschbarkeit der Heilberufe zur Folge habe. Reflexion im eigentlichen Sinne sei hierbei von den Medizinern nicht gefragt, es ginge zunehmend um Standardi­sierung. Medizin müsse jedoch denken, forderte Maio, sie müsse die aufoktroyierte Stromlinienförmigkeit durchbrechen.
Giovanni Maio beklagte die Tendenz zu vorgefertigten Handlungsanweisungen mit dem Ziel der Effizienzsteigerung.
Wissenschaftlichkeit in der Medizin würde aktuell behauptet durch Algorithmen, repräsentiert durch vorgefertigte Entscheidungsbahnen, die durch die Digi­talisierung unterfüttert würden. Ausreichend Daten zu sammeln würde Objektivität gewährleisten, so werde suggeriert. Die Herausforderung in der Medizin seien aber nicht die Fakten, sondern die Krankheit in ihrer Bedeutung für den Patienten. Diese Bedeutung sei erfassbar durch die Sinne: das Hören, Sprechen, Fühlen. Die Befunde stellten Herausforderungen dar. Wenn sie dem Patienten eröffnet würden, sei nichts mehr, wie es war. Hier würden keine Algorithmen helfen. ­Medizin müsse die Not erkennen, die aus den Befunden für den Patienten resultierten. Eine Ansammlung von Handlungsschablonen aufgrund von Befunden sei «en vogue». Fälschlicherweise werde darin Einspa­rungs­potenzial gesehen, und Reden gelte als Zeitverschwendung. Medizin solle aktuell reduziert werden auf eine Ansammlung von unoriginellen Fleissübungen. Die Medizin ginge induktiv vor, der Arzt müsse sich etwas ausdenken, müsse erwägen, wie man das Problem ­lösen könne. Problemlösungswissen würde heutzutage abgewertet, doch man müsse sich die Freiheit bewahren, dieses Problemlösungswissen auszubilden. Gefordert sei ein Andenken gegen die Ideologien der Zeit.
Zur Struktur beider Tagungen gehörten neben Vor­trägen, Arbeitsgruppen und Diskussionen bewusst gesetzte sinnliche und sinnstiftende Pausen. So etwa Wanderungen um Ascona, ein Meditationsangebot oder eine Einladung zum Kreistanz in der Parklandschaft des Monte Verità, wo die zweite Tagung «Ökonomie versus Würde» im Jahr 2020 stattfand. Auch dies ein Ort geistigen Aufbruchs, wo sich um 1900 eine Gruppe Menschen der Idee verschrieben hatte, ein naturnahes Leben zu praktizieren, begleitet von sozialen Utopien, die später in Ernährung, Kleidung und Kunst ihren Niederschlag fanden.

Die Tagung «Ökonomie versus Würde»

Nach der Begrüssung durch Dr. Melitta Breznik und Dr. Michael Holzapfel stellte Dr. Breznik, unter dem Titel «Medical Profession Writing» verschiedene Bücher von Ärzten vor, die sich in den letzten 70 Jahren im deutsch- und englischsprachigen Raum mit ihrem «Arztsein» beschäftigt haben. Sie zitierte Texte aus Sterblich sein von Atul Gawande, Arzt und Patient von Joachim Bodamer sowie aus Bernhard Lowns Buch Die verlorene Kunst des Heilens. Alle Autoren haben sich kritisch mit unterschiedlichen Aspekten der «Verökonomisierung» der Medizin auseinandergesetzt. Dr. Michael Holzapfel erörterte in seinem Vortrag den Begriff der Würde aus philosophisch-historischer Sicht, von Pico della Mirandola bis Viktor von Weizäcker. Würde sei ein humanistischer Wert, der je nach Zeitgeist erst in der jeweiligen Situation entfaltet würde. Dr. Holzapfel konstatiert, dass mit der daten­gestützten Ökonomisierung und der zunehmenden Digitalisierung in der Medizin die Gefahr einer Dissoziation von sinnlicher, prozesshafter, beziehungsgestalteter, narrativer, emotionaler und mentalisierender Integration bestünde.
Melitta Breznik, hier neben Michael Holzapfel, stellte verschiedene Bücher vor von Ärzten, die sich mit dem Wesen ihres Arztseins beschäftigt haben.

Über die Würde im klinischen Alltag

Prof. Dr. Roger Schmidt, Abteilung für Psychosomatik, Kantonsspital St. Gallen, sprach über «Critical Incidences compromising Dignity». Es gebe eine Verleugnung der Würde im klinischen Alltag. Sie könne in der ­Me­dizin situativ verloren gehen und bliebe zu oft ­un­erwähnt, in der Öffentlichkeit, aber auch bei den ­Beteiligten persönlich, etwa im Austausch der Medi­zinalpersonen. Wichtig sei, so Prof. Schmidt, sich über das Unerhörte und Unsagbare austauschen zu können. Das brauche Zeit und Raum und nicht ökonomischen Druck. Würde im Umgang mit sich selbst sei im Arztberuf vonnöten, die Balance zwischen selbstbestimmter Verantwortung und Überforderung.
PD. Dr. Ina Hinnenthal, Chefärztin der Psychiatrie in Imperia, Ligurien, berichtete von absurden Einschränkungen des medizinischen Alltags in unterschiedlichen Einrichtungen, für die sie zuständig sei. Michaela Forster, MAS in Palliative Care, vom Kantonsspital St. Gallen sprach über die «Dignity Therapy» und wie sie im Alltag der Palliativabteilung praktische Anwendung findet. Ein Ansatzpunkt sei, das Leben zu würdigen, bevor es zu Ende gehe, etwa indem man Mensche­n dabei helfe, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben.

Fünf Charakteristika der menschlichen Würde

Prof. Giovanni Maio sprach in seinem Vortrag darüber, dass Medizinerinnen und Mediziner in der ärztlich-therapeutischen Situation als Behandelnde dazu angehalten seien, auf Fragen des Patienten eine angemessene Antwort zu geben. Die «Angemessenheit» müsse fünf Charakteristika der menschlichen Würde berücksichtigen: Unverfügbarkeit, Unersetzbarkeit, Unverwechselbarkeit, Unvertretbarkeit und Uneinholbarkeit. Was wir in der modernen Medizin betrieben, sei die Reduktion des «Kosmos des Anderen» auf das, was wir schon kennen – zum Zweck der Handhabbarkeit. Es entstehe ein «Diktat der Stromlinienförmigkeit». Diese würde in den standardisierten Abläufen gefordert.
Prof. Maio entfaltete auch fünf konstituierende Merkmale des Menschseins im medizinischen Kontext: Singularität, Situativität, Perspektivität, Kontextualität, Prozessualität. Es bestünde eine Singularität für jeden Menschen, selbst bei gleicher Erkrankung. Gerade hier gäbe es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Kranksein, das nur in seiner Singularität begriffen werden könne, ansonsten würde man von einem Reparatur­paradigma ausgehen. Mit Situativität sei die Situa­tion der Arzt-Patienten-Begegnung gemeint, die immer einzigartig und neu sei und im nächsten ­Moment wieder anders sein könne. Hier benötige die Patientin oder der Patient eben Hilfe zur Bewältigung der speziellen Situation. Mit der Perspektivität solle ausgedrückt werden, dass es notwendig sei, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen, der Patient, aber auch der Arzt hätte seine eigene Perspektive auf das Geschehen. Kontextualität wiederum beinhalte Komplexizität. Es gäbe immer einen komplexen Kontext des Krankseins, der berücksichtigt werden müsse, denn er habe letztendlich grossen Einfluss auf die Erkrankung. Prozessualität beinhalte die Wandelbarkeit, wobei es gelte, nicht nur eine Aktion zu verfolgen, sondern Interaktion zu ermöglichen.
In der Diskussion erläuterte Prof. Maio, dass Algorithmen kein «Beurteilungsvermögen» bei der Vielschichtigkeit der Situation des Krankseins haben könnten, dafür brauche es den Arzt mit seiner Erfahrung. Damit in Zusammenhang stehe auch, dass nicht nur zweckrationalistisches Denken erforderlich sei, sondern hermeneutisches, den Standpunkt des Patienten einnehmendes, nicht induktives, sondern deduktives Denken mit der Frage, was passend sei. Medizin als Dienstleistung und der Patient als «Kunde» lassen den Patienten allein in seiner Not, denn dieser könne in Wahrheit gar nicht wirklich wählen, weil immer ein nicht zu leugnendes Wissensgefälle zwischen Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient bestehe.
Die nächste Tagung ist geplant für das letzte September­wochenende 2021 auf dem Monte Verità.

Das Wichtigste in Kürze

• Die Tagung «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn im Arztberuf» fragte, wie man den Arztberuf wieder mit «sinnhaftem» Inhalt statt mit «unattraktiven Fleissaufgaben» füllen könne.
• Als wissenschaftlich in der Medizin gelten aktuell Algorithmen, repräsentiert durch vorgefertigte Entscheidungsbahnen. In der Medizin geht es aber nicht nur um Fakten, sondern um Krankheit in ihrer Bedeutung für den Patienten.
• Die Tagung «Ökonomie versus Würde» unterstrich, die moderne Medizin betreibe zu sehr eine Reduktion des «Kosmos des Anderen» auf das bereits Bekannte – zum Zweck der besseren Handhabbarkeit.

L’essentiel en bref

• La réunion «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn im Arztberuf» posait la question de savoir comment intégrer à la profession de médecin du contenu «signifiant» au lieu de «tâches rébarbatives».
• Les algorithmes sont considérés comme des outils scientifiques en médecine, représentés par des décisions précon­s­truites. En médecine, il n’est pas que question de faits, mais aussi de maladie dans son importance pour le patient.
• La réunion «Ökonomie versus Würde» (Économie vs dignité) a souligné que la médecine moderne réduisait trop le «Cosmos de l’Autre» à ce qui est déjà connu, ceci en vue d’une meilleure applicabilité.
Dr. med. Melitta Breznik
melitta.breznik[at]cseb.ch

Dr. med. Michael Holzapfel
michael.holzapfel[at]clinicum-alpinum.li