Der Arztbesuch als Luxus

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19634
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(10):380

Affiliations
Dr. med., Medizinischer Direktor Stadtärztlicher Dienst Zürich, Vorstand VLSS

Publiziert am 09.03.2021

Die Gesundheitsversorgung der Schweizer Bevölkerung ist auf hohem Niveau, lese ich in vielen Studien. Im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere in ­Europa, sind wir Spitzenreiter. Aber sind in den Studien alle Menschen, die ärztliche Unterstützung benötigen, wirklich berücksichtigt?
Ein nicht unerheblicher Anteil an Familien, Paaren und alleinstehenden Menschen kann sich eine ärztliche Versorgung aus finanziellen Gründen nicht leisten. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, die Krankenkassenprämien zu bezahlen, und bemühen sich um Unterstützung in Form einer Prä­mienverbilligung. Doch die Anspruchsvoraussetzungen dafür sind in den letzten Jahren in vielen Kantonen verschärft worden, und die gesprochenen Zuwendungen sinken deutlich. Einige Menschen unserer Gesellschaft können ihre Prämien für die Krankenkasse nur inter­mittierend zahlen und werden dafür – je nach Wohnkanton – mit einem Eintrag in der «schwarzen Liste» «belohnt». Damit ist verbrieft, dass nur lebensnotwendige Therapien bezahlt werden. Wer entscheidet dies? Zu welch absurden Situationen dies führt, ist wiederholt der Tagespresse zu entnehmen. 
Die Auswertungen des Bundes bestätigen meine Aussagen: Gemäss Daten des Bundesamtes für Statistik [1] sind die Gesundheitskosten pro Person und Monat zwischen 2010 und 2018 von CHF 662 auf 785 gestiegen. Dies entspricht einer Steigerung von knapp 20%. Das durchschnittliche verfügbare Einkommen der Privathaushalte im gleichen Jahr betrug CHF 7069 pro Monat – wobei die Löhne von mehr als 60% aller Schweizer Haushalte unter diesem Wert liegen [2]. 
Ein Arztbesuch wird zu einem (fast) unerreichbaren Luxus. Provokativ ausgedrückt: Die medizinische Grundversorgung ist in der Schweiz abhängig von der sozialen Situation, insbesondere der finanziellen Situation. 
Diese Entwicklung der letzten Jahre verfolge ich mit grossen «Bauchschmerzen». Die Anzahl der betroffenen Erwachsenen, die sich keinen Arztbesuch leisten können, steigt jährlich. Das sind Menschen, die arbeiten, eine Familie unterhalten und mitten unter uns leben. Aus meiner Sicht ergibt sich zusätzlich ein Pro­blem bei den Heranwachsenden. Diese lernen aus dem Verhalten der Eltern respektive Bekannten, dass trotz Berufstätigkeit bei (irgendwie aushaltbaren) gesundheitlichen Beschwerden keine ärztliche Versorgung in Anspruch genommen wird. Zudem kann dadurch für Kinder und Jugendliche der Eindruck entstehen, dass die Notfallstation die erste Anlaufstelle in der Gesundheitsversorgung sei – aus meiner Sicht höchst bedenk­liche Entwicklungen. 
Wäre es nicht an der Zeit, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass es allen Menschen unabhängig von ­ihren gesellschaftlichen Determinanten möglich ist, die medizinische Grundversorgung in Anspruch zu nehmen?
Eine Anstrengung, die sich aus meiner Sicht lohnen würde – und eine Entwicklung mit nachhaltigen Folgen für unser Gesundheitswesen darstellen würde. Es geht mir nicht darum, bisherige Veränderungen und Lösungsvorschläge zu be- oder verurteilen, doch sind diese für die zukünftigen Herausforderungen adäquat? Erreichen die bisher getroffenen Massnahmen auch jene Menschen, die ihre Krankenkassenprämien nicht oder kaum zahlen können? Zeigen geplante Massnahmen für diesen Personenkreis Wirkung? 
Wir sollten uns auch die Frage stellen, wo wir in der Schweiz diesbezüglich im Hinblick auf die Millennium Development Goals (MDG) der WHO stehen.
Jede Anstrengung in Richtung einer positiven Veränderung sollte unterstützt werden. Der Arztbesuch ist kein Luxus und muss allen möglich sein.