«Militär- und Katastrophenmedizin soll auch im Zivilen wirken»

Horizonte
Ausgabe
2021/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19658
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(11):404-406

Affiliations
Texterin

Publiziert am 16.03.2021

Die letzte Prüfung ist geschafft, das Medizinstudium beendet. Und wie geht es jetzt weiter? In unserer Serie «Du findest Deinen Weg!» stellen wir Ihnen in unregel­mässigen Abständen aussergewöhnliche Berufsperspektiven für Mediziner vor. In dieser Ausgabe berichtet Dr. med. Andreas Stettbacher über seinen militärmedizinischen Werdegang und seine Tätigkeit als Oberfeldarzt der Schweizer Armee.
Name:
Dr. med. Andreas Stettbacher
Alter: 59
Zivilstand:
verheiratet, zwei Kinder
Weiterbildung:
Chirurgie
Tätigkeit:
Militärarzt seit 1989, Oberfeldarzt und Beauftragter des Bundesrates für den Koordinierten Sanitätsdienst KSD seit 2009
Was trat zuerst in Ihr Leben, das Militär oder die Medizin?
Zuerst die Medizin, doch sehr bald auch das Militär: In der Rekrutenschule erholte ich mich vom Schock, durch das erste Propädeutikum gefallen zu sein. Ich absolvierte dann Unteroffiziersschule, Abverdienen sowie Offiziersschule an einem Stück – und war fas­ziniert von den notfallmedizinischen Inhalten der Ausbildung. Sie gaben mir den Kick, die Herausforderungen des Studiums zu meistern. Zudem bekräftigte mich ein Ereignis während der Weiterbildung in meiner Berufswahl: Ich traf auf einen Verkehrsunfall, bei dem ich Schwerverletzte mit den vorhandenen Mitteln notfallmedizinisch versorgen konnte. Dies zeigte mir klar, dass es mein Ziel war, effizient Hilfe zu leisten. Dafür waren Chirurgie und Notfallmedizin das Richtige.
Beschritten Sie den typischen Berufsweg eines Militärarztes?
Ja und nein. In meiner Generation gehörte es einfach dazu, ins Militär zu gehen, ob gern oder ungern. Zwar leistete ich bereits während des Studiums relativ viele Diensttage als Sanitätsoffizier, verfolgte dabei aber keine Militärkarriere. Sie passierte einfach, wie bei vielen Berufskollegen. Dennoch bin ich unter Berufsmilitärs etwas ein Exot, da ich beruflich zuerst lange zivile Wege ging und spät zum Berufsmilitär wechselte, erst mit der Ernennung zum Oberfeldarzt.
Wie kam das?
Nach meiner Chirurgieausbildung wollte ich mein Handwerk anwenden und viel operieren. Da dies damals in der Schweiz nicht gut möglich war, ging ich als Volontär an ein Spital in Kapstadt. Aus den geplanten sechs Monaten wurden fünf höchst spannende und lehrreiche Jahre, die mich sehr geprägt haben. Unterbrochen habe ich sie einzig für einen OSZE-Einsatz 1999 in Bosnien. In Südafrika sah ich ein riesiges ope­ratives Spektrum, übernahm rasch mehr Verantwortung, konnte ausbilden und Neuerungen einführen. Zum Beispiel die Tageschirurgie, dank der wir die Tausenden von Menschen, die auf eine Operation warteten, viel rascher versorgen konnten. Am Ende führte ich zwei Spitäler. Dann wurde die Affirmative Action Policy im Gesundheitssektor eingeführt, welche gezielt zuvor unterprivilegierte Südafrikaner in hohe ­Positionen einsetzte. Als weisser Schweizer mit temporärer Aufenthaltsgenehmigung hatte ich keine Chance zu bleiben. Vier Wochen nach der Kündigung war ich zurück in der Schweiz und trat eine Stelle beim Eid­genössischen Departement für Verteidigung, Bevöl­kerungsschutz und Sport (VBS) an. Da sich dort spannende Projekte anboten und ich meine Erfahrung einbringen konnte, geriet der Plan, nach einer chirurgischen Chefarztstelle zu suchen, immer mehr in den Hintergrund.
Gab es auch im Rahmen Ihrer Tätigkeit beim VBS internationale Einsätze?
Schon 2001 ging es für die internationale Friedensförderung mit der Swisscoy in den Kosovo, wo ich als Chief Medical Officer arbeitete. Zwei Jahre darauf, am 26. Dezember 2003, kam es im Iran in der Nähe der Stadt Bam zu einem Erdbeben, das 26 000 Menschen das Leben kostete. Damals erhob ich für das Katastrophenhilfekorps den notfallmedizinischen Bedarf. Wenige Monate zuvor hatte ich als Chef Medizin die mili­tärmedizinische Betreuung des G8-Gipfels in Evian geleitet, eine Aufgabe, die im Gegensatz zur Katastrophe in Bam im Zuge des gesamten Armeeeinsatzes gut vorbereitet werden konnte.
Militärärztinnen und -ärzte sind international gefragte Fachleute, beispielsweise bei der Swisscoy KFOR.
Als Oberfeldarzt leiten Sie seit zwölf Jahren die Geschicke des militärischen Gesundheitswesens. Gleichzeitig sind Sie in ziviler Funktion Beauftragter des Bundesrates für den koordinierten Sanitätsdienst. Was heisst das?
Ich führe im Armeestab die Sanität, d.h. eine Organisation, welche die medizinische Versorgung der Armee sicherstellt. Dies umfasst die Gesundheitsbetreuung der Armeeangehörigen, die Ausbildung von Sanitätssoldatinnen und -soldaten, die Armeeapotheke, die militär- und katastrophenmedizinische Forschung, die epidemiologische Lagebeobachtung, das Veteri­när­wesen, die Katastrophenmedizin und die inter­natio­nale Zusammenarbeit in der Militärmedizin. Mit diese­n Kompetenzen und Ressourcen verstärkt der ­Koordinierte Sanitätsdienst die zivile Gesundheitsversorgung in der Vorbereitung auf Krisen und bei deren Bewältigung – wie in der aktuellen Coronapandemie. Das vergangene Jahr hat uns entsprechend beansprucht. Um nur einige damit verbundene Aufgaben zu nennen: Es waren riesige Mengen von Masken zu beschaffen, es fand die grösste Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg statt, dank der u.a. Spitäler und Rettungsdienste rasch durch Sanitätssoldatinnen und -soldaten verstärkt werden konnten, und es galt, in kürzester Zeit ein Monitoring der schweizweiten Spitalauslastung zu etablieren.
Welche Fortschritte der Militärmedizin der letzten Jahre bewähren sich in der Coronakrise?
Neben dem Einsatz von 150 modernen, für Transporte von Infektionspatienten besonders geeigneten Ambulanzen hat sich ganz klar unsere Investition in die militärmedizinische Ausbildung ausgezahlt. Wir bieten mit dem Pflegehelfer SRK kostenlos eine national zertifizierte Ausbildung an, die mit diversen Zusatzzerti­fikaten ausgebaut wird. Sowohl Spitalsoldatinnen und -soldaten wie auch Einheitssanitäter – also Soldatinnen und Soldaten mit Rettungs- und Ambulanzaus­bildung – leisten u.a. Dienst in Spitälern, wo sie regelmässig 1:1-Erfahrungen sammeln im Umgang mit Patienten und zivilen Gesundheitsfachleuten. Inzwischen haben die Kliniken gemerkt, dass aus der Mili­tärmedizin echte Verstärkung kommt – entsprechend begehrt sind unsere Leute. Dies auch an Grossanlässen wie der Fête des Vignerons 2019, einer Ski-Weltmeisterschaft oder am Eidgenössischen Schwingfest.
Sanitätssoldatinnen und -soldaten in der rettungsmedizinischen Ausbildung.
Weshalb entscheiden sich angehende Ärztinnen und Ärzte für die Militärmedizin?
Wir können die jungen Leute gleich zu Beginn packen, indem wir sie sehr früh mit notfallmedizinischen Inhalten vertraut machen. Sie haben zudem sehr kompetente Ausbildende und erleben viel Praxis. Gleich­zeitig lernen sie im Team arbeiten, entwickeln eine effiziente Lerntechnik, um mit dem vielen Stoff im Studium richtig umzugehen, und steigern die eigene Re­silienz. Junge Kolleginnen und Kollegen bestätigen mir immer wieder, dass ihnen die militärmedizinische Ausbildung in vielen Studienbereichen einen Wissensvorsprung verschafft hat. Dazu kommt, dass die Ausbildung sehr gut auf das zivile Medizinstudium abgestimmt ist und keinen Zeitverlust generiert.
Ist die Militärmedizin auch für Frauen attraktiv?
Die Sanität ist mit Abstand die Truppengattung mit dem höchsten Frauenanteil. In der letzten Unter­offiziersschule waren von total 94 Teilnehmenden 14 Frauen, Tendenz steigend. Die Hälfte der Anwärterinnen stammt aus dem Rotkreuzdienst, die andere Hälfte findet über den normalen Militärdienstweg als zukünftige Militärärztinnen, Zahnärztinnen, Pharmazeutinnen oder bei den Veterinärtruppen als Veterinärinnen zu uns und leistet freiwillig Dienst. Zudem sind heute die Arbeitsperspektiven auch bei der Armee generell ­familienfreundlicher und berücksichtigen den Wunsch der Arbeitnehmenden, zugunsten einer guten Work-Life-Balance auch Teilzeit arbeiten zu können.
Oberfeldarzt Andreas Stettbacher im Gespräch mit Angehörigen eines Spitalbataillons.
Was bedeutet Ihnen Ihre Aufgabe als ­«oberster ­Doktor der Armee»?
Ich könnte mir keinen spannenderen, vielfältigeren Job vorstellen, in dem ich meine gesamte Erfahrung einbringen und ständig Neues lernen kann. Ich habe ein riesiges nationales und internationales Netzwerk, habe tolle Dinge erlebt und viele wichtige Projekte realisieren und begleiten können, so die Modernisierung der militärmedizinischen Ausbildung, die Beschaffung neuer Ambulanzen oder das Revival des Tourniquets. Dieses Abbindesystem war Anfang 2000 in der Schweiz verpönt und ist heute dank der Armee wieder rettungsmedizinischer Standard beim Management von Extremitätenblutungen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der ­Schweizer Militärmedizin?
Es ist für die Militärmedizin essentiell, die rasanten Entwicklungen in Medizin und Technologie zu inte­grieren und zu nutzen. Ich denke hier an Robotik, automatische Patientenbergung oder Artificial Intelligence. Mit Letzterer liessen sich die gigantischen Datenmengen, die bei den Rekrutierungen beispielsweise durch EKG zusammenkommen, viel einfacher handhaben und auswerten. Wichtig ist mir zudem Folgendes: Bis vor kurzem waren wir in der Schweiz für Jahrzehnte damit gesegnet, keine Krisen und Katastrophen erleben zu müssen. Dadurch ist aber in den Spitälern und generell in der Medizin viel Wissen verloren gegangen, wie Katastrophen zu bewältigen sind. Die Armee hat dieses Know-how weiter gepflegt. Es ist mir ein Anliegen, katastrophenmedizinische Kompetenzen auch in den zivilen Institutionen wieder stärker aufzubauen, in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen. Denn wenn bei Behörden und Spitälern ausreichend kata­strophenmedizinisches Wissen vorhanden ist, kann ­dieses bei Grossereignissen und in Krisen rasch ein­gesetzt werden und viel bewirken.

Die militärmedizinische Ausbildung

Die militärmedizinische Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten ist eng mit dem zivilen Studienverlauf verknüpft und zeitlich wie inhaltlich darauf abgestimmt. Die Grundausbildung bei der Sanität umfasst für Medizinstudierende eine verkürzte Rekrutenschule (sechs Wochen) mit Militärarzt-Unteroffiziersschule (sechs Wochen) sowie die Militärarzt-Offiziersschule (acht Wochen). Nach abgeschlossenem Medizinstudium und erfolgreicher militärärztlicher Ausbildung folgen zwölf Wochen praktischer Dienst als Truppenarzt bzw. -ärztin in der Grundversorgung. Die Ausbildungsschwerpunkte liegen neben der militärischen Grundausbildung vor allem auf international zertifizierten notfallmedizinischen Kompetenzen, praxisorientierter medizinischer Grundversorgung, Führungskompetenz und Handlungsfähigkeit in schwierigen Situationen. Weitere Informationen: www.armee.ch/sanitaet; www.rkd.ch; zur militär- und katastrophenmedizinischen Weiter- und Fortbildung: www.mkm-mmc.ch
Haben Sie als Mediziner auch einen aussergewöhnlichen Beruf, den Sie unserer Leserschaft gern vorstellen möchten? Dann freuen wir uns auf Ihr E-Mail an: redaktion.saez[at]emh.ch
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