Ist der Mensch nur noch ein Medizinprodukt?

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2021/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19786
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(16):542

Publiziert am 21.04.2021

Ist der Mensch nur noch ein ­Medizinprodukt?

Ja, ich bin pensioniert, stehe nicht mehr als Hausärztin an der Front. Ja, ich muss mich nicht mehr täglich exponieren durch meine kritische Haltung. Dabei bin ich weder «Coro­na-Leugnerin» noch «Impf-Skeptikerin», gehöre in keine andere als die vernünftige, evidenzgläubige Schublade.
Ich fühlte mich gemäss den ethischen Prin­zipien meines Berufs stets dazu verpflichtet, allem so weit wie möglich (Stand des momentanen Irrtums) auf den Grund zu gehen. Und tue es immer noch.
Ja, ich bin pensioniert. Und zum ersten Mal bin ich richtig froh darum. Die wenigen Pa­tientinnen und Patienten, die ich noch behandle, wollen nicht wegen Maskentragens, Übersterblichkeit, Verschiebung von dring­lichen Operationen, Impfens oder Nicht-Impfens usw. beraten werden. Seit langem ziehe ich mich aus der Affäre von Corona-Diskussionen mit den Worten: «Vieles ist im Grunde viel weniger klar, als wir glauben.» Und wenn jemand weiterhin diskutieren will, lenke ich ab mit: «Das Wichtigste in der momentanen Situation ist wohl, dass wir lernen, mit Nichtwissen, mit Unsicherheiten umzugehen.»
Mit Freunden und Bekannten habe ich nach kurzer Zeit aufgehört zu argumentieren. Zu rasch fühlte ich Fronten entstehen, die sich zu verhärten und schlussendlich mit einem Riss in Beziehungen zu enden drohten.
Viele der behördlich verordneten Massnahmen konnte und kann ich nicht verstehen ­angesichts der mangelnden Evidenz der den Entscheidungen zugrunde liegenden wissenschaftlichen Studien. Doch ich habe sie akzeptiert als Versuch von nicht optimal be­ratenen Laien, die Schweizer Bevölkerung für einen Mittelweg durch die Krise zu gewinnen.
Vieles, was dann geschah, hat mich erschreckt. So zuletzt auch die Diskussion um Privilegien für Corona-Geimpfte gegenüber Nichtgeimpften. Dies angesichts des allgemein bekannten Wissens darüber, dass Geimpfte eher leichte bis asymptomatische Corona-­Verläufe aufweisen und deshalb umso mehr im Versteckten ansteckend sein können. Dieser Vorschlag für Privilegien Geimpfter wurde sogar von namhaften Ethikern als diskussionswürdig beurteilt!
Jetzt aber wird etwas diskutiert, das in keiner Weise zu verstehen ist: Die natürliche Immunität bei Menschen, die eine SARS-CoV-2-­Infektion durchgemacht haben, wird, was die genannten Privilegien anbelangt, der Immunisierung durch einen unausgereiften Impfstoff nicht gleichgestellt. Da wir wissen, dass die Immunitätslage nach einer Infektion mindestens ebenso gut ist und mindestens eben­so lange anhält wie bei Geimpften, gibt es kein einziges gültiges Argument für dieses Verdikt.
Wie soll solches den Menschen das schon jetzt fragile Vertrauen in das Funktionieren ihres Körpers erhalten? Ihnen das Wissen versichern, dass sie nicht Teil einer Medizinal­maschine, ein Kunstprodukt sind, sondern immunkompetent, sozial kompetent, urteilskompetent, selbstkompetent – einfach kompetent?