Autistisch-undiszipliniertes Denken: war das einmal?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/21
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19838
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(21):720

Affiliations
Dr. med., ehem. Präsident des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF

Publiziert am 26.05.2021

Der Chefarzt einer meiner ersten Arbeitsstellen hat uns Assistenzärztinnen und -ärzten eindringlich die Lektüre des Buches Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung empfohlen [1]. Es erschien erstmals 1919, hat fünf Auflagen erlebt und ist antiquarisch erhältlich. Sein Verfasser ist Professor ­Eugen Bleuler, der von 1898 bis 1927 Direktor der psych­iatrischen Universitätsklinik (damals «Burghölzli») in Zürich war und den Begriff der Schizophrenie prägte.
Das ganze Buch ist ein mit vielen Beispielen untermauertes Plädoyer für ärztliches Reden und Handeln auf der Basis von klarem, kritischem Denken, zu dem auch immer das Eingeständnis gehören muss, dass man etwas schlicht nicht weiss. Viele Szenen, die der Autor beschreibt, gehören natürlich in die Medizingeschichte, sie sind aber träf, unterhaltsam, einleuchtend und voller Bezüge zur Gegenwart. Ich muss mich auf einige ­Zitate beschränken:
– Fast so schwer wie das «ich kann nicht helfen» und «ich weiss es nicht», jedenfalls für viele zu schwer, ist das «ich finde nichts» bei der Untersuchung.
– Der Trieb zu heilen kann nurmehr der Antrieb und die Treibkraft unseres Handelns sein; die Richtung desselben, das Wo und das Wie zu bestimmen, das ist ganz ­allein eine Sache des Verstandes.
– Dass das Stillen lange Zeit vernachlässigt oder gar verpönt war, ist unter der ausdrücklichen und stillschweigenden Billigung der Ärzte geschehen. Bei einem Kindbett wurde ich gelehrt, dass man die Frau 12 Tage im Bett halten müsse (einzelne wollten sie sogar während dieser Zeit in Rückenlage festhalten) [...] Vor wenigen Jahren hat die Vorsicht umgeschlagen; man empfiehlt möglichst frühes Aufstehen.
– Ich weiss die Zeit noch, wo die Ärzte bei Neigung zu Verstopfung alles «schwer Verdauliche», nicht voll Ausnutzbare verboten. Seitdem haben die Vegetarier uns gelehrt, dass gerade der Ballast die Darmtätigkeit anregt. Man verschreibt den Verstopften Agarase, nur um das Volumen der Fäces zu vergrössern, und in einer Irren­anstalt hat man längere Zeit massenhaft gesiebten Kies als Abführmittel gegeben, wobei ich an dem Erfolg nicht zweifle, wohl aber an der Notwendigkeit, den Gedärmen der Geisteskranken so viel in ihre ­Tätigkeit hineinzu­reden.
– Wie Astronomie und Chemie aus Astrologie und ­Alchemie heraus sich entwickelt haben, so ist die Arzneiwissenschaft auf dem Wege über den Kräutermann mit seiner nur äusserlich gefärbten, aber in Wirklichkeit fast ganz autistischen Tätigkeit aus der Zauberei des Me­dizinmannes herausgewachsen – leider aber noch nicht ganz, der Arzt steckt noch mit einem Fusse drin und der Laie bis an die Brust.
Auch die Grippeepidemie von 1918/19 gibt Eugen Bleuler Anlass, das Denken und das Verhalten der Ärzte ­unter der damaligen Belastungssituation zu hinter­fragen. Seine Beispiele und Überlegungen sind zum Teil gar nicht so weit weg von dem, was heute beobachtet und diskutiert wird:
– Ergraute Praktiker wetteifern mit Leuten, die die ­Examensangst noch kaum überwunden haben, in der Verbreitung von neuen und alten Wahrheiten und ­benutzen dazu auch die Zeitungen [Anmerkung des «Setzers»: Kommt uns das irgendwie bekannt vor?], und die Behörden müssen, auch wenn sie den Unsinn einsehen, zur Beruhigung des Publikums und um sich die schwersten Vorwürfe zu ersparen, allerlei Vorschriften erlassen und mit Strafandrohungen gewichtig machen. Sie müssen in den Erlassen über das Kohlesparen das Fensteröffnen und den häufigen Wechsel der Leibwäsche verbieten, in den Grippe­erlassen das Fensteröffnen und eifrigen Wäschewechsel aber befehlen und noch viele andere psychologische Wahlversuche mit ihren lieben Untertanen machen.
– Die Lieferung von Salvarsan an die Schweiz durch Deutschland zum Zwecke der Grippebekämpfung ist eine politische Aktion geworden.
Heute geht es zwar nicht mehr um Salvarsan, sondern um knappe Impfstoffe; es geht nicht mehr um Kieselsteine als Abführmittel, sondern um neue Technologien und Superantikörper; es geht nicht mehr nur um Zeitungsartikel, sondern um alle möglichen Internet-Plattformen mit widersprüchlichen Experteninterviews, die sich zum Teil nur auf präliminäre Studien­resultate abstützen.
Fazit: Der Begriff des autistisch-undisziplinierten Denkens wird uns wohl noch eine ganze Weile begleiten. Und das nicht nur in der Medizin …
werner.bauer[at]hin.ch
1 Bleuler E. Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung. 5. Auflage, 3. Neudruck. Berlin: Springer; 1975.