Was darf eine Krebstherapie kosten?

Tribüne
Ausgabe
2021/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19840
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(3132):1007-1009

Affiliations
Prof. Dr. med., Chefarzt Onkologie/Hämatologie, Kantonsspital Graubünden

Publiziert am 04.08.2021

Krebs wird durch gezielte Therapien besser behandelbar und zunehmend zu einer chronischen Erkrankung. Die geltenden Nutzenüberlegungen sind untauglich, weil sie weder die Entwicklungskosten, den Erfolg einer Behandlung noch die indirekten Kosten angemessen berücksichtigen. Wir brauchen dringend einen Systemwechsel, damit der Zugang zu wirksamen Therapien nicht zur Lotterie wird.
Eine Krebszelle wird zerstört.
Die Behandlung von Krebs macht stete Fortschritte. So lag die 5-Jahres-Überlebensrate 2008–2012 bei Männern bei 65 Prozent, was einem Anstieg von 9 Prozentpunkten in einem Jahrzehnt entspricht (Frauen: 68 Pro­zent, plus 6 Prozentpunkte) [1]. Dank zielgerichteten Behandlungen überleben heute beispielsweise Patienten mit metastasiertem Bronchialkarzinom mit bestimmten molekularen Aberrationen (ALK-Mutation) viele Jahre [2].
In Zeiten des Homo oeconomicus ordnen wir allen Gütern, Ereignissen und dem Leben selbst einen Preis zu. Kürzlich wurde ein ausführlicher Bericht über Onko­logika, unterstützt von Bristol Myers Squibb, von Polynomics unter dem Titel «Innovation kostet, aber stiftet Nutzen: zwischen Regulierung und Patientennutzen» [3] publiziert. Er zeigt die Wichtigkeit des Themas Krebserkrankungen in der Schweiz, aber auch den Wert der Pharmaforschung und die Kosten von Onkologika. Gerade in der Schweiz leistet die Pharmaindustrie eine grosse Wertschöpfung für die Bevölkerung und trägt beispielsweise CHF 42 Mia. zur Aussenhandelsbilanz bei [4]. Der Wirtschaftsstandort Schweiz ist letztlich ein Profiteur des starken Patentschutzes und der hohen Medikamentenpreise – insbesondere wenn man den nicht zulässigen Vergleich der Gesamtkosten von CHF 80 Mia. [5] des schweizerischen Gesundheitswesens mit den CHF 42 Mia. Handelsüberschuss macht.
Keinen Niederschlag im Bericht fand die durch die ­Öffentlichkeit finanzierte Forschung. Besonders die unabhängige klinische Krebsforschung, wie sie von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) betrieben wird, kann helfen, Therapien für Patientinnen und Patienten zu optimie­ren und damit bei gleichzeitig besserer Verträglichkeit Kosten zu senken [6]. Nebst diesen Dosisoptimierungsstudien können auch populationsbasierte Register mit Outcome Daten entscheidend dazu beitragen, dass Medikamente effizienter eingesetzt werden und damit prospektiv kostendämpfend wirken. Leider ist dieser Bereich jedoch massiv unterfinanziert. Damit wird verhindert, dass die Basis für einen neuen Ansatz der Nutzenbewertung gelegt wird, was Veränderungen bei der Preisfestsetzung ermöglichen würde.

Sind die Preise für Onkologika ­gerechtfertigt?

Wenn wir von einem Patienten mit einem metastasierten Melanom ausgehen, zeigt sich: Mit einer Chemotherapie lag das 5-Jahres-Überleben bei 5 Prozent, mit einer Immuntherapie liegt es nun bei 26 Prozent und mit Immun-Kombinationstherapien gar bei 52 Prozent [7]. Keine Frage, dass der Patient und seine Angehörigen die neuen Therapien wünschen und die Ärzteschaft sie aufgrund des Nutzens verschreibt – bei Kosten von gegen CHF 150 000 pro Jahr [8]. Versicherte haben ein zusätzliches Lebensjahr bei bester Gesundheit mit CHF 200 000 bewertet [9], einen zweimonatigen Gewinn mit geringer Verbesserung der Lebensqualität hingegen mit weniger als CHF 50 000 [10]. Die meisten innovativen Medikamente in der Krebstherapie bringen aber keine zwölf Monate bei bester Gesundheit als Nutzen, sondern eher eine Dauer im Bereich von 3 bis 6 Monaten [11, 12].

Wie gross ist die Kostenexplosion in der Onkologie tatsächlich?

Vor diesem Hintergrund scheinen die jährlichen Ausgaben für Onkologika von CHF 700 Mio. [13] akzeptabel, zumal Krebs bei Menschen zwischen 45 und 65 Jahren die häufigste Todesursache ist [14]. Dies spiegelt sich auch im Verhältnis zum Total der Medikamentenkosten von CHF 7 Mia. sowie zu den Gesundheitskosten in der Grundversicherung von rund CHF 34 Mia. Problematisch sind die kontinuierliche hohe jährliche Kostensteigerung [15] und das deutlich überdurchschnittliche Mengenwachstum durch zusätzliche Indikationen ohne adäquate Preissenkungen. Durch den Zerfall grosser Indikationen wie Lungenkrebs in molekulare Kleinstgruppen werden höhere Preise erzielt (Orphanisierung), dank hoher Effizienz verlängert sich die Behandlungszeit, die Zahl behandelbarer Patientinnen und Patienten steigt. Der Nutzen für den einzelnen Menschen ist hoch. Es müssen nun aber neue Wege für eine akzeptable und bezahlbare Abgeltung gefunden werden.
Das System kann für individualisierte Krebstherapien die Kosten nicht auf einem nachhaltig bezahlbaren Nive­au halten. Die geltende Preisfestsetzung in der Schweiz beruht auf dem Auslandpreisvergleich und dem therapeutischen Quervergleich. Kosten-Nutzen-Studien werden nicht standardmässig beigezogen wie beispielsweise in England. Der vom Bund vorgeschlagene Kostendeckel und die Einmischung der Politik in Behandlungsentscheide sind keine Lösung und entschieden abzulehnen, denn sie gefährden das Patientenwohl, die Innovation sowie den Forschungsstandort Schweiz. Verschiedene Exponenten in der Schweiz fordern eine Vergütung, die auf den Forschungs- und Vertriebskosten basiert und eine akzeptable Rendite erlaubt. Nebst diesem Ansatz werden auch Preismodelle diskutiert, die versuchen, die hohen Kosten finanziell besser abzufedern, und freie marktwirtschaftliche Ansätze präferieren (siehe Tab. 1).
Tabelle 1 [16]: Preismodelle zur Verbesserung der Produkteverfügbarkeit und ­-erschwinglichkeit.
Hypothekar- oder Abonnementmodelle sind schwierig, da Patientinnen und Patienten jährlich ihre Krankenkasse wechseln können und der administrative Aufwand enorm wäre. Volumenabhängige Preise sind bei Orphan Drugs wie in der Onkologie nicht zielführend. Bleibt also der Therapieerfolg als Grundlage für ein Preismodell. Aktuelle Diskussionen der «Value-Based Oncology» gehen in diese Richtung. Bei der Initiative der ESMO (European Society for Medical Oncology, Lugano) wird das Ausmass des klinischen Nutzens differenziert beurteilt (siehe Abb. 1). ­Dieses Modell wird in der Schweiz bereits verwendet. Allerdings werden auch hier indirekte Kosten wie der Produktivitätsverlust oder die Einbindung von Betreuungspersonen nicht kalkuliert. Die ­direkten Kosten bei Krebs machen in der Schweiz pro Jahr CHF 4 bis 5 Mia. aus, die indirekten Kosten liegen bei CHF 5 bis 6 Mia. Daraus leitet sich ab, dass neue Kalkulationsmodelle entwickelt werden müssen. Wieso sollte nicht ein Teil der reduzierten indirekten Kosten wieder ins Gesundheitswesen zurückfliessen, zum Beispiel als Rückerstattung, die von den Nutz­niessern dieser Innovationen bezahlt wird?
Abbildung 1 [17]

Ohne Berücksichtigung indirekter ­Kosten kann der Nutzen nicht abgeschätzt werden

Der im Vergleich zu den Kosten höhere Netto-Nutzen einer Therapie ist ein weiterer entscheidender Aspekt und wird in keinem der Modelle berücksichtigt. Krebs betrifft vor allem ältere Menschen, was zu einer Vernachlässigung von indirekten Kosten wie Arbeitsausfall führt. Über 65-Jährige sind meist nicht berufstätig, aber sie sind sehr wohl in den Wertschöpfungsprozess integriert. 33 Prozent der Kinder bis zwölf Jahre werden regelmässig von Grosseltern betreut. Im Jahr 2016 wurde dieser Beitrag auf 160 Millionen Stunden mit ­einem Wert von CHF 8 Mia. geschätzt [18]. Nicht ­berücksichtigt ist dabei, dass damit beide Elternteile im Arbeitsprozess bleiben können. Auch geringere Betreuungskosten in Alters- und Pflegeheimen müssten aufgerechnet werden. Die Gesellschaft profitiert also auf verschiedenen Ebenen von einem Produktivitätsgewinn, was eine Berücksichtigung bei der Preisfestsetzung wie auch einer Rückerstattung rechtfertigt.

Das Wichtigste in Kürze

• Moderne Krebstherapien, insbesondere Immuntherapien und auch personalisierte Medizin, haben zu einer deutlich höheren Überlebensrate bei verbesserter Lebensqualität geführt.
• Die heute angewandte Festsetzung von Medikamenten­preisen ist überholt. Neben direkten Kosten müssen auch indirekte Kosten berücksichtigt werden.
• Um das Gesundheitswesen vor einem Kollaps zu bewahren, sollten bald neue Lösungen gefunden werden.

L’essentiel en bref

• Les thérapies modernes contre le cancer, en particulier les immunothérapies et la médecine personnalisée, ont permis d’augmenter considérablement le taux de survie et d’améliorer la qualité de vie.
• La manière actuelle de fixer les prix des médicaments est dépassée. Outre les coûts directs, les coûts indirects doivent également être pris en compte.
• Pour éviter un effondrement du système de santé, de nouvelles solutions doivent être trouvées rapidement.
Prof. Dr. med.
Roger von Moos
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170
CH-7000 Chur
081 256 66 44
 2 Britschgi C, et al. Real-World Treatment Patterns and Survival Outcome in Advanced Anaplastic Lymphoma Kinase (ALK) Rearranged Non-Small-Cell Lung Cancer Patients. Front Oncol. 21 August 2020.
3, 4, 10 Bill M, Kuhlmey F, Telser H. Onkologika – Innovation kostet, stiftet aber auch Nutzen. Zwischen Regulierung und Patientennutzen. Polynomics, 4. August 2020, im Auftrag von Bristol Myers Squibb, Steinhausen ZG: www.polynomics.ch/fileadmin/polynomics/04_Dokumente/Polynomics_Onkologika_Broschuere_Interaktive_2020-09-09.pdf
 6 Koeberle D, Betticher DC, von Moos R, Dietrich D, Brauchli P, Baertschi D, et al. Bevacizumab continuation versus no continuation after first-line chemotherapy plus bevacizumab in patients with metastatic colorectal cancer: a randomized phase III non-inferiority trial (SAKK 41/06). Ann Oncol. 2015 Apr;26(4):709–14.
 7 European Society for Medical Oncology (28 September 2019). One in two patients with metastatic melanoma alive after five years with combination immunotherapy: www.esmo.org/newsroom/press-office/esmo-congress-melanoma-immunotherapy-checkmate067-larkin
 8 Peters S, von Moos R, Thurlimann B. Est-ce raisonnable que je prescrive un traitement à 150 000 FRS à mon patient? Revue Médicale Suisse. 2015;15(43):1005–10.
 9 Beck K, von Wyl V, Telser H, Fischer B (2017). Kosten und Nutzen von medizinischen Behandlungen am Lebensende:
www.nfp67.ch/SiteCollectionDocuments/lay-summary-final-report-beck.pdf10
12 Simons M, Ramaekers B, Peeters A, Mankor J, Paats M, Aerts J, et al. Observed versus modelled lifetime overall survival of targeted therapies and immunotherapies for advanced non-small cell lung cancer patients – A systematic review. Critical Reviews in Oncology/Hematology. 2020;153:103035.
16 PwC Health Research Institute (2019). Creating a stable drug pricing strategy in an unstable global market: www.pwc.com/us/en/industries/health-industries/health-research-institute/assets/pwc-2019-us-health-drug-pricing-digital.pdf
17 Presented by Elisabeth De Vries at 2017 ASCO Annual Meeting.