Vernetzung von Unikliniken und Spitälern

Das virtuelle Krankenhaus

Tribüne
Ausgabe
2021/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19860
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(23):787-788

Affiliations
Freischaffender Journalist

Publiziert am 08.06.2021

Das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen macht vorwärts mit der Digitalisierung seines Gesundheitswesens. Mit dem Projekt «Virtuelles Krankenhaus» sollen periphere Spitäler digital mit den Universitätskliniken vernetzt werden und von deren Wissen profitieren.
Zur Arbeit fährt Tobias Mock am Morgen jeweils per Fahrrad. Aber kaum ist er am Josephs-Hospital Warendorf im Norden von Nordrhein-Westfalen angekommen, nimmt er den Wagen: einen handlichen Visitenwagen mit Laptop, grossem Bildschirm, Kamera und WLAN-Modem. Jeden Morgen von Montag bis Freitag kommt die Technik mit zur Visite bei den Patientinnen und Patienten der Intensivstation. «Guten Morgen, Televisite», kündigt Oberarzt Tobias Mock beim Betreten der Zimmer denn auch an. Auf dem Bildschirm mit dabei sind ärztliche Kolleginnen und Kollegen des Universitätsklinikums Münster. Sie kommen mit den Patientinnen und Patienten ebenfalls ins Gespräch und lassen ihre Expertise bei der Besprechung der Behandlung einfliessen.
Solche Televisiten gehören für Tobias Mock zum Alltag, seit das Josephs-Hospital Warendorf von 2017 bis 2020 am Projekt TELnet@NRW teilgenommen hat. Das mit öffentlichen Geldern geförderte Projekt hatte zum Ziel, kleine Krankenhäuser und niedergelassene Arztpraxen telemedizinisch mit den Universitätskliniken Münster und Aachen zu verbinden. Die Peripherie sollte vom Fachwissen der Unikliniken in der Infektiologie und Intensivmedizin profitieren – mit einem ­speziellen Fokus auf die Sepsistherapie. Die Auswahl der hochspezialisierten Fachbereiche war kein Zufall, denn in ganz Deutschland gibt es laut der Projektwebsite nur rund 300 ausgebildete Fachpersonen für Infektiologie.
Unterwegs mit dem Visitenwagen: Oberarzt Tobias Mock ist überzeugter Nutzer der Telemedizin am Josephs-Hospital Warendorf in Nordrhein-Westfalen.

Zielgerichtetere Therapie

«Seit die Antibiotikatherapie-Experten der Uniklinik regelmässig all unsere Intensivpatientinnen und -pa­tienten telemedizinisch sehen, ist unsere Antibiotikatherapie zielgerichteter, zeitlich begrenzter und besser dosiert», so das Fazit von Oberarzt Tobias Mock. Die ­Erfahrungen des Josephs-Hospitals Warendorf mit der Telemedizin waren so positiv, dass die Televisiten auch nach Abschluss von TELnet@NRW beibehalten wurden.
Jetzt beteiligt sich das Spital am nächsten Projekt: Mit dem «Virtuellen Krankenhaus» will Nordrhein-West­falen die deutschlandweit erste Plattform bieten, die fachärztliche Expertise im Bundesland flächendeckend digital vernetzt. Alle Spitäler und längerfristig auch niedergelassenen Praxen sollen mit den Univer­sitätskliniken Münster und Aachen sowie weiteren spezialisierten Kliniken des Bundeslandes virtuell ­verbunden werden. Auch hier ist das Ziel, dass die Menschen in allen Landesteilen am medizinischen Fortschritt teilhaben. In der Anfangsphase beschränkt sich das Angebot auf die Bereiche Intensivmedizin und Infektiologie. Später sollen unter anderem die Themen Herzinsuffizienz, seltene Erkrankungen und Leber­metastasen bei kolorektalem Karzinom hinzukommen.
Aufgrund der Coronapandemie wurde der Start des «Virtuellen Krankenhauses» im Frühling 2020 im Rahmen eines Vorprojekts vorgezogen. Seither steht die infektiologische und intensivmedizinische Expertise der Universitätskliniken Aachen und Münster alle­n Krankenhäusern im Bundesland für die Behandlung von COVID-19-Erkrankten zur Verfügung. Dieses flächendeckend verfügbare Netz zur telemedizinischen Unterstützung sei europaweit einzigartig, wird der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-­Josef Laumann in einer Medienmitteilung zitiert. Der Erfolg zeige sich bereits an den tieferen Mortalitäts­raten der beteiligten Spitäler. Zudem sei die Zahl der Verlegungen sehr niedrig.

Grosse Nachfrage

Das «Virtuelle Krankenhaus» will Vorbildcharakter über das Bundesland hinaus haben. Und es will der ­Digitalisierung des Gesundheitswesens in ganz Deutschland einen Schub verleihen. Es sind hochgesteckte Ziele, wobei die bisherigen Erfahrungen die Beteiligten optimistisch stimmen: TELnet@NRW und das COVID-19-Vorprojekt sind auf grosse Akzeptanz bei Patien­tinnen, Patienten und Angehörigen und auf grosses ­Interesse bei den peripheren Spitälern gestossen. Mehr als 100 000 Personen haben im Rahmen von TELnet@NRW von Televisiten profitiert. Am COVID-19-Vor­projekt beteiligten sich bisher 39 von insgesamt rund 360 Spitälern im Bundesland.
Das rege Interesse hat sicher auch mit den unkomplizierten Abläufen zu tun. Wer Beratung sucht, füllt auf der Website virtuelles-krankenhaus.nrw ein Anmeldeformular für ein Telekonsil aus, erhält eine Einladung mit Login und wird zum vereinbarten Zeitpunkt im virtuellen Wartezimmer erwartet.

Effizienter und angenehmer

Oberarzt Tobias Mock bespricht die Verläufe und Messwerte aller Patientinnen und Patienten jeweils zuerst mit den Kolleginnen und Kollegen der Uniklinik. An­schlies­send sucht er mit dem Visitenwagen die Zimmer auf, um auch den direkten Kontakt zwischen den Teleintensivmedizinern und den Erkrankten zu ermöglichen.
Rund 2500 Televisiten gab es bis heute auf der Intensivstation in Warendorf. Gab es zuvor denn keine Kontakte zu den Universitätskliniken? «Doch», bestätigt Tobias Mock, aber: «Die Schwelle war viel höher. Heute regeln wir im unkomplizierten Kontakt, was früher Überwindung kostete. Oft wusste man erstmal gar nicht, wen man anrufen kann, und landete in der Telefonwarteschleife der Zentrale. Heute läuft alles viel ­effizienter und zugleich angenehmer ab.»
Von diesen Vorteilen sollen noch viel mehr Spitäler profitieren. Das Gesundheitsministerium von Nordrhein-Westfalen fördert das Projekt «Virtuelles Krankenhaus» bis 2023 mit rund 12 Millionen Euro. Für die ­nötigen IT-Investitionen stehen zusätzliche Förder­programme von Land und Bund zur Verfügung. Langfristig soll das «Virtuelle Krankenhaus» Teil der Regel­versorgung werden und später wie alle anderen Leistungen von den Krankenkassen finanziert werden.

Auf Augenhöhe

Zu Beginn hatte es auch Vorbehalte gegenüber den ­Televisiten gegeben, erinnert sich Tobias Mock: Werden die Unikliniken versuchen, lukrative Fälle aus den peripheren Spitälern zu sich zu holen? Werden die Visiten ein belehrendes Dozieren sein? «All dies hat sich in keiner Weise bestätigt, im Gegenteil», so Mock. «Die Diskussionen finden auf Augenhöhe statt. Und nicht selten kommen wir gemeinsam zum Schluss, dass auch die Uniklinik keine bessere Behandlung anbieten könnte als wir und der Patient bei uns weiterhin gut aufgehoben ist. Das sind wertvolle Erkenntnisse, die den Angehörigen die Angst nehmen, dass vielleicht nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.»
Nicht immer gehe es darum, dass an der Uniklinik viel mehr Expertise vorhanden wäre als beim regionalen Spital: «Wichtig ist, dass ein zweiter erfahrener Intensivmediziner die Labor- und Messwerte sowie den Patienten oder die Patientin anschaut. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, etwas zu übersehen, und es fliessen andere Ideen und Differenzialdiagnosen ein», ist Tobias Mock überzeugt.
Er freut sich deshalb nach dem COVID-19-Vorprojekt auf den eigentlichen Start des «Virtuellen Krankhauses», der bald erfolgen soll. Wobei die Telemedizin am Josephs-Hospital Warendorf auch unabhängig davon schon heute immer weitere Kreise zieht. So finden ­inzwischen auch auf der Palliativstation mindestens wöchentlich Televisiten mit der Uniklinik Münster statt. Und bei der Tumorkonferenz ist das lokale Team per Videokonferenz mit der Radiologie und Pathologie der Uniklinik verbunden. Der Visitenwagen für die ­Telemedizin gehört heute in Warendorf deshalb zum alltäglichen Inventar.
adrianritter[at]gmx.ch