FMH
Covid-Zertifikat: Auch zweischneidige Schwerter sollten scharf sein
Dr. med., Präsidentin der FMH
Als die FMH Anfang Mai ankündigte, gemeinsam mit pharmaSuisse ein nationales Impfzertifikat zu lancieren, erhielten wir sehr viel positive Resonanz. Sowohl in der medialen Öffentlichkeit als auch unter unseren Mitgliedern stiess unser Vorhaben, schnell ein praxistaugliches Tool mit maximaler Datensicherheit auf Basis bestehender Infrastrukturen zu entwickeln, auf grosse Zustimmung. Die Mehrheit der Reaktionen zeugte von einem grossen Bedürfnis, mit einem solchen Zertifikat mehr Freiheiten zu ermöglichen – bei gleichzeitig möglichst geringem Gesundheitsrisiko.
Doch auch kritische Stimmen waren zu hören. Ihr wichtigster Einwand war: Verschafft die FMH mit einem Covid-Zertifikat nicht gesellschaftlicher Diskriminierung eine ärztliche Legitimation? Helfen wir nun dabei, die Gesellschaft in «nachgewiesen Unbedenkliche» und «potenziell Ansteckende» zu unterteilen? Befördern wir nicht einen faktischen Impfzwang, sollten zukünftig Reisen oder Konzertbesuche ohne Covid-Zertifikat nicht mehr möglich sein?
Diesen wichtigen Bedenken lässt sich zunächst pragmatisch entgegnen: Das Zertifikat kommt ohnehin – und wir Ärztinnen und Ärzte sind unmittelbar betroffen. Es stellte sich für die FMH also weniger die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Covid-Zertifikat zu unterstützen ist. Es stellte sich vor allem die Frage, ob wir in Praxen, Impfzentren und Spitälern voraussichtlich komplizierte Lösungen Dritter bedienen müssen – oder ob wir lieber eine eigene handliche Lösung liefern.
Grundsätzlich führt uns das Covid-Zertifikat vor Augen, dass die Medizin immer in einem gesellschaftlichen Kontext steht. Von jeher tragen wir Impfungen in das Impfbüchlein ein oder kommen unserer Meldepflicht übertragbarer Krankheiten nach – ohne direkt Einfluss auf die Verwendung dieser Daten nehmen zu können. Das Covid-Zertifikat geht nun noch deutlich weiter als der Impfpass: Es dient nicht mehr in erster Linie der medizinischen Dokumentation zuhanden des Patienten. Es ist explizit als Ausweis der «Unbedenklichkeit» konzipiert, der seinem Besitzer ermöglicht, Grundrechte wieder wahrzunehmen. Ein Impfzwang besteht dadurch nicht, denn auch genesene und negativ getestete Personen sollen damit – gemäss Bundesrat – zum Beispiel an Veranstaltungen teilnehmen oder reisen können. So bietet das Zertifikat die Chance, die Gesundheit und Resilienz von Menschen zu stärken, die jetzt unter sozialer Isolation leiden.
Die Sorge, ob die politisch Verantwortlichen ein solches Zertifikat in ethisch vertretbarer Weise einsetzen werden, kann nie vollständig ausgeräumt werden. Ein Zertifikat ist ein Werkzeug, das wie jedes Werkzeug sehr unterschiedlich genutzt werden kann. Ob ein Messer schnitzt oder tötet, ob ein Medikament Schmerzen lindert oder Schäden verursacht, hängt davon ab, wie es eingesetzt wird. Ob ein Zertifikat nur für Auslandsreisen und Konzertbesuche oder auch für Einkäufe und Spaziergänge zur Voraussetzung wird, entscheiden nicht wir, sondern unsere demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertreter. Die Tatsache, dass man ein Werkzeug missbrauchen kann, sollte uns aber nicht davon abhalten, gute Werkzeuge zu entwickeln. Wer ein Werkzeug zur Verfügung stellt, legitimiert damit nicht potenziellen Missbrauch.
Die FMH und pharmaSuisse vertrauen darauf, dass in unserer Demokratie ein Covid-Zertifikat im Sinne der Bevölkerung eingesetzt wird. Wir sehen uns ausserdem in der Pflicht, unsere Kompetenzen zur Bewältigung dieser Pandemie einzubringen – und bieten darum Hand für eine gemeinsame Lösung mit BAG und BIT. Der potenzielle Mehrwert für Patienten, Leistungserbringer und in der Pandemiebekämpfung verpflichtet uns, dieses Projekt zu wagen. Ein früher verfügbares, sicheres Zertifikat für die Patienten und weniger Administration für unsere Mitglieder ermöglichen schnellere Freiheiten und Impfungen. Angesichts dieses Gesundheitsgewinns – packen wir die Chance!
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