Interview zum TARDOC

«Es ist nichts teurer als schlechte Qualität und unfaire Tarife»

FMH
Ausgabe
2021/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19899
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(22):724-727

Affiliations
Freier Journalist

Publiziert am 02.06.2021

Der neue ambulante Tarif TARDOC befindet sich auf der Zielgeraden. Wie wichtig ist er für das Schweizer Gesundheitswesen? Darüber diskutieren Nationalrätin Ruth Humbel, FMH-Zentralvorstand Urs Stoffel und curafutura-Direktor Pius Zängerle.
Urs Stoffel, der TARDOC hat zur Folge, dass manche Behandlungen und Eingriffe besser vergütet sind, manche aber auch schlechter. Wie verkaufen Sie den neuen Tarif Ihren Kolleginnen und Kollegen?
Urs Stoffel: Der TARDOC ist ein betriebswirtschaftlich berechneter Tarif, der die zeitgemässen und aktuellen Leistungen in der Medizin sachgerecht abbilden soll. Natürlich gibt es bei einer Gesamtrevision immer Anpassungen, sonst müsste man ja gar keine Revision durchführen – jedoch nicht nur Anpassungen nach unten, sondern auch nach oben. Die Ärztinnen und Ärzte haben verstanden, dass wir nun alle zusammenhalten und auch Kompromisse eingehen müssen, wenn wir wieder einen tarifpartnerschaftlichen Tarif haben ­wollen und uns nicht der Willkür von bundesrätlichen Tarifeingriffen und einem Amtstarif aussetzen wollen.
Frau Humbel, als Politikerin muss es Ihr Anliegen sein, dass die Kosten im Gesundheitswesen nicht ins Unermessliche steigen. Welche Rolle spielt der TARDOC dabei?
Ruth Humbel: Grundsätzlich vertraue ich darauf, dass sich die Partner auf einen Tarif geeinigt haben, der nicht zum Kostentreiber wird. Es geht aber bei einem Tarif nicht darum tiefe, sondern sachgerechte Preise für ­medizinische Leistungen zu erhalten. Und es ist völlig klar, dass wir diese mit dem TARMED nicht mehr haben.
Über den neuen Tarif entscheidet der Bundesrat. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Parlamentarierin in diesem Prozess?
Humbel: Direkten Einfluss habe ich nicht, das stimmt. Ich kann bloss immer wieder nachfragen, wie der Stand ist. Zudem überlege ich mir, ob es richtig ist, dass die Behörden einen Tarif genehmigen müssen und ­ihnen dafür keine Frist gesetzt wird. Gerade bei einem solch grossen und wichtigen Projekt, das auch in der Umsetzung anforderungsreich ist, wären klare Fristen für die Planbarkeit wichtig. Wenn man sieht, welche grundsätzlichen Fragen das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nach der ersten Prüfung stellte ...
Pius Zängerle: Sie tippen einen zentralen Punkt an. Die Zusammenarbeit zwischen den Tarifpartnern und den Behörden. Das ist ein Punkt, den wir bemängeln: Die Behörde funktioniert wie ein Orakel. Zu wichtigen Fragen sagen sie nichts oder nichts Substantielles.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Zängerle: Es gibt vonseiten der Behörden keine verbindlichen Aussagen zur Kostenneutralität. Diese ist zentral für den neuen Tarif. FMH und curafutura mussten diesen Punkt selber entwickeln. In der Hoffnung, dass der Vorschlag dann auch akzeptiert wird. Wir ­haben ein Jahr lang um diese Lösung gerungen – wenn dann vom BAG so viele Punkte bemängelt werden, fühlt sich die Arbeit vergebens an.
Weshalb schauen Sie Frau Humbel an?
Zängerle: Das wäre unser Anliegen an die Politik, an das Parlament: Es ist doch verrückt, wenn die Tarifpartner sieben Jahre an einem Tarif arbeiten, und dann geschieht die Genehmigung unstrukturiert und braucht zwei, drei, vielleicht aber auch fünf Jahre.

Die Interviewten

Seit 2003 vertritt Ruth Humbel für «Die Mitte» (ehem. CVP) den Kanton ­Aargau im Nationalrat. Die Juristin ist Verwaltungs- und Stiftungsrätin bei verschiedenen Institutionen, u.a. Verwaltungsrätin der Concordia Versicherungen sowie Präsidentin der EQUAM-Stiftung.
Ruth Humbel
Urs Stoffel praktiziert als allgemeiner Chirurg in Zürich und ist Belegarzt an mehreren Privatkliniken. Er ist seit 2012 Mitglied des Zentralvorstandes der FMH und dort verantwortlich für die ambulante Versorgung und Tarife.
Urs Stoffel
Mathematiker und Ökonom Pius Zängerle ist seit 2015 Direktor von cura­futura. Der Verband vertritt die Interessen der Krankenversicherer CSS, Helsana, Sanitas und KPT. curafutura setzt sich aktiv für die Beseitigung der grössten Fehlanreize im schweizerischen Gesundheitssystem ein.
Pius Zängerle
Gründet Ihr Frust darauf, dass es so lange geht oder dass Sie nicht wissen, wie lange es geht?
Zängerle: Beides. Da ist einerseits die Unsicherheit, weil gewisse Eckwerte unklar sind. Wir haben zwar ­etwas verhandelt, wissen aber nicht, ob das genügend oder genehm ist. Und andererseits ist die lange Wartezeit ohne verbindliche Fristen stossend.
Der TARMED ist nun schon so lange veraltet, kommt es da auf ein, zwei Jahre noch an?
Stoffel: Es ist sogar entscheidend! Sonst ist der TARDOC bereits bei seiner Einführung wieder veraltet. Wir wollen zeitnah starten, damit die Zahlen noch aktuell sind. Sehen Sie: Der TARMED wurde 2002 genehmigt, 2004 eingeführt, mit Zahlen aus den späten 90er Jahren. Genau das möchten wir bei der Einführung des TARDOC unbedingt vermeiden, dass der Tarif schon bei der Einführung nicht mehr aktuell ist.
Humbel: Sicher, es ist an der Zeit, dass der TARDOC ­zügig vorankommt. Was ich nicht verstehe: FMH und curafutura verhandeln sieben Jahre und legen dann das ganze Paket dem Bundesrat zur Genehmigung vor. Weshalb haben Sie nicht den Kontakt zum BAG gesucht, um wesentliche Eckwerte wie Referenzeinkommen und Normarbeitszeit zu definieren? Das hätte man vor Jahren, zu Beginn der Verhandlungen, besprechen können, nicht erst jetzt.
Zängerle: Das war genau unsere Absicht: Ein Dialog mit dem BAG. Das war aber sehr schwierig, sei es zur Kostenneutralität, sei es zu den Bedingungen für eine Genehmigung. Es ist ein Problem, dass dieser Dialog nicht möglich ist, weil er nicht zum Prozedere gehört oder nicht gewünscht wird.
Nicht alle Verbände und Organisationen sind beim TARDOC dabei, die Einstimmigkeit fehlt. Was halten Sie von den Fallpauschalen, die so etwas wie einen Gegenvorschlag bilden?
Humbel: Natürlich ist es ein Mangel, dass gewisse Verbände wie etwa H+ oder santésuisse beim TARDOC fehlen. Das darf aber den neuen, zeitgemässen Tarif nicht verhindern, wenn dieser den gesetzlichen Vorgaben genügt, zumal der Bundesrat verschiedentlich dar­gelegt hat, dass eine revidierte Tarifstruktur jeweils durch eine Mehrheit der Tarifpartner – das heisst eine Mehrheit der Leistungserbringer sowie einer Mehrheit der durch die Versicherer vertretenen Versicherten – vereinbart werden muss.
Stoffel: Pauschalen sind dann geeignet und sinnvoll, um Einzelleistungen abzulösen, wenn sie Eingriffe oder Behandlungen umfassen, welche gut abgrenzbar sind. Leistungen mit einem klaren Anfang und Ende der Leistung, die tarifiert werden soll.
Aber?
Stoffel: Die Voraussetzung für eine sachgerechte und faire Pauschale ist ein ausgewogener, sachgerechter und betriebswirtschaftlicher Einzelleistungstarif. Letztlich setzt sich jede Pauschale aus Einzelleistungen zusammen. Gerade in der Grundversorgung gibt es aber sehr viele Leistungen, die sich nicht pauschalisieren lassen. Heute liegen nur Pauschalen vor, welche weniger als 10 Prozent des ambulanten Volumens ­abdecken.
Zängerle: Es spielen hier zwei Komponenten. Das ­System erlaubt, dass ein Teil der Leistungen mit Einzelleistungen, ein anderer mit Pauschalen abgegolten wird. Es gibt jetzt einen neuen, zeitgemässen Tarif, um den TARMED abzulösen. Auf der anderen Seite stehen wir bei den Pauschalen erst am Anfang der Diskussionen. Muss man deshalb mit dem TARDOC warten?
Muss man warten, Frau Humbel?
Humbel: Ich nehme ziemlich erstaunt zur Kenntnis, dass Ängste und Befürchtungen existieren, der TARDOC würde zurückgestellt, bis ambulante Pauschalen vorliegen. Der TARDOC darf aber sicher nicht mit noch nicht vorliegenden ambulanten Pauschalen verknüpft werden. Das würde die Blockade weiterführen.
Zängerle: Zwischen dem TARDOC und den Pauschalen bestehen Zusammenhänge. Aber man darf aus Zusammenhängen keine Abhängigkeiten machen. Klar muss man an die gegenseitigen Einflüsse denken. Wenn man daraus aber eine Gleichzeitigkeit ableitet, werden wir immobil und sklerotisch. Wir müssen es schaffen, in wichtigen Teilbereichen Revisionen zu machen. Sonst rechnen wir noch 2030 mit dem TARMED ab.
Stoffel: Hier finden sich Parallelen zur Medizin selbst. Eine Technik wird angewendet, laufend weiterent­wickelt und allenfalls irgendwann abgelöst. Nehmen wir die epochale Änderung durch die laparoskopische Medizin. Die hat sich durchgesetzt, weil sie besser, ­aktueller, effizienter, risikoärmer war. Übertragen auf die Pauschalen heisst das: Sobald eine Pauschale bereitsteht, die betriebswirtschaftlich und sachgerecht ist, löst sie den Einzeltarif ab.
Humbel: Diese Parallele hinkt, Herr Stoffel. Beim ­medizinischen Fortschritt sind alle daran interessiert, diesen möglichst schnell zu nutzen, im Gegensatz zu Tarifrevisionen, wo es in erster Linie um Eigeninteressen geht. Die starke Regulierung im Gesundheitswesen ist denn auch die Folge der Trägheit seiner Akteure, die Tarifautonomie zu nutzen. Leider steht bei Tarifverhandlungen nicht immer der zufriedene Patient im Mittelpunkt, nicht die gute Leistung oder ein effizienter Einsatz der Ressourcen. Das ist der grosse Unterschied zur technischen Entwicklung der Medizin, bei der alle Akteure Vorteile sehen.
Zängerle: Es gibt eine Komplikation: die Verbandsvielfalt. Deshalb ist es eben nicht nur Marktversagen der ­Akteure, sondern ein Stück weit auch Staatsversagen. Wenn klar wäre, unter welchen Bedingungen eine Tarifstruktur eingereicht werden kann und genehmigungsfähig ist, würden die Prozesse enorm beschleunigt. ­Wegen der Unsicherheiten lohnt sich das Arbeiten eventuell nicht. Verlässliche Rahmenbedingungen gehö­ren darum zu den Aufgaben des Staats und der Poli­tik, damit es sich lohnt, auch in Verhandlungen zu ­investieren.
Die politische Diskussion bei den Massnahmen­paketen, mit denen der Bundesrat die Kosten im Gesundheitswesen dämpfen möchte, dreht sich um praxis- und spitalambulante Leistungen.
Humbel: Für mich ist in dieser Diskussion zentral, dass wir damit die Praxismedizin nicht schwächen. Wenn man Leistungen in Spitälern erbringt, die in der Praxis günstiger wären, dann stimmt etwas mit den Anreizen, das heisst mit der Tarifierung nicht. Hier muss der Grundsatz gelten: Nur diejenigen Leistungen werden im Spital erbracht, die eine entsprechende Infrastruktur brauchen.
Zängerle: Darum sind die Tarife wichtig, konkret der Pauschal- und der Einzelleistungstarif für ärztliche Leistungen. Beide müssen auf je geeignete Weise ­ambulante Leistungen beschreiben, unabhängig von einem konkreten Ort ihrer Erbringung. Da nehmen gewisse Spitäler heute die tarifarische Entwicklung bereits vorweg: Sie trennen die ambulanten und die stationären Prozesse, um nicht in Strukturen gefangen zu sein, mit ­denen sie nie kostendeckend arbeiten ­können.
Wo sehen Sie da den Spareffekt?
Zängerle: In sachgerechten Tarifen. Wo Pauschalen Sinn machen, vereinfachen sie Prozesse und helfen mit, die Kosten zu dämpfen.
Stoffel: Dem stimme ich zu, wenn wir dereinst differenzierte Pauschalen haben. Eine Leistenbruch-OP bei einem 20-Jährigen und eine bei einem 80-Jährigen sind nicht vergleichbar. Entsprechend müssen Pauschalen diese Unterschiede abbilden können, sonst ­sehen wir uns bald mit der Risikoselektion auf Seite Leistungserbringer konfrontiert. Zu sagen, Pauschalen sind das Mittel, das alle Probleme der Tarifierung von Arztleistungen im Gesundheitswesen löst, ist zu simpel.
Wer gewinnt mit dem TARDOC, wer verliert?
Stoffel: Die Frage nach den Gewinnern und den Verlierern scheint in der Diskussion um den ­TARDOC ein Dauerbrenner zu sein. Sie wird von den Medien immer wieder gestellt. Grundsätzlich gibt es nicht einfach Fachrichtungen, die zu den Gewinnern zählen, und andere, die immer die Verlierer sind. Es ist stark davon abhängig, wie das Leistungsprofil der einzelnen Ärztin oder des einzelnen Arztes innerhalb der gleichen Fachgesellschaft aussieht. So gibt es zum ­Beispiel in der Ophthalmologie Leistungserbringer, die sehr viele operative Leistungen erbringen und dafür im ­TARDOC tiefer abgegolten werden als im TARMED. Es gibt aber auch Ophthalmologen, die ein Leistungsprofil abdecken, das heute im TARDOC besser tarifiert ist. Diese Vergleiche, wer nun «Verlierer» und wer ­«Gewinner» sind mit dem TARDOC, lässt sich auf Ebene der Fach­gesellschaft also nicht so einfach beantworten.
Zängerle: Bei den Kosten geht ein Gedanke oft vergessen. In der Schweiz reden wir heute von einer Überversorgung von 20 bis 30 Prozent. Diese findet zu einem guten Teil dort statt, wo die Tarife zu hoch sind. Mit einem sachgerechten Tarif fallen wichtige Fehlanreize zur Überversorgung weg.
Humbel: Wenn der TARDOC Fehlanreize beseitigt und nutzlose Behandlungen zu eliminieren vermag, dann würde das zu namhaften Einsparungen führen. Damit würden die Tarifpartner zentrale Elemente des Kostendämpfungspaketes des Bundesrates umsetzen.
Apropos Kosten: Über den TARMED werden jährlich 12 Milliarden Franken abgerechnet. Erschrecken Sie manchmal ob dieser Zahl?
Humbel: 12 Milliarden sind viel Geld. Wenn man es richtig einsetzt, kann damit ein optimaler Nutzen für Patientinnen und Patienten erzielt werden. Und dar­um ist es wichtig, dass nur die Leistungen erbracht und abgerechnet werden, die nützlich und nötig sind.
Zängerle: 12 Milliarden repräsentieren einen wichtigen Teil des KVG. Dort bestehen mit dem alten Tarif ganz viele schlechte Anreize. Wir sind angehalten, die grössten Fehlanreize zu beseitigen. 12 Milliarden Franken entsprechen den Kosten einer Neat-Röhre – und das in einem Jahr. Das zeigt, wie riesig das Projekt Gesundheitswesen ist.
Stoffel: Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme weltweit. Diese 12 Milliarden sind für die hohe Qualität in der Gesundheitsversorgung für die Be­völkerung dann gut eingesetzt, wenn sie notwendige und qualitativ hochstehende Leistungen abdecken, welche sachgerecht, fair und betriebswirtschaftlich tari­fiert sind. Das ist das Ziel, das wir mit dem TARDOC er­reichen wollen. Gesundheitsökonomin Elizabeth Teisber­g hat gesagt: «Es ist nichts teurer als schlechte Qualität und unfaire Tarife.» Genau deshalb braucht es den neuen Tarif.

TARDOC

• Neu
Der TARDOC löst den veralteten TARMED ab. Dieser ist seit 17 Jahren unverändert und basiert auf der Medizin und auf Zahlen der 90er Jahre. Der neue Tarif wurde 2019 dem Bundesrat zur Genehmigung eingereicht.
• Fair
Der TARDOC listet 2700 Positionen auf, anhand deren ambulante Leistungen künftig abgerechnet werden. Die einzelnen Tarifpunkte wurden überprüft und angepasst, damit die Leistungen künftig fair entschädigt und Fehlanreize verhindert werden.
• Dynamisch
Beim TARDOC hat die Veränderung System: Die einzelnen ­Tarifpositionen werden ab der Einführung jährlich überprüft und allenfalls angepasst. Dafür gibt es einen bereits vereinbarten Revisionsprozess.
• Breit abgestützt
Hinter dem TARDOC stehen die FMH, die Mitglieder der curafutura plus die Krankenversicherer SWICA sowie die MTK (Unfall-, Invaliden- und Militärversicherer). Die KVG-Versicherer vertreten die Mehrheit der Versicherten in der Schweiz.
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