Die medizinische Aus- und Weiterbildung muss erneuert werden

Tribüne
Ausgabe
2021/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19933
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(34):1099-1101

Affiliations
Prof. em. Dr. med., Universität Zürich

Publiziert am 25.08.2021

Die Struktur des Medizinstudiums basiert immer noch auf der Vorstellung, dass es die eine ärztliche Fachperson gibt, obwohl sich die Medizin in über 40 Disziplinen aufgeteilt hat. Es ist daher an der Zeit, früher im Studium mit der Ausbildung in ­einer der Disziplinen zu beginnen, um damit auch die Dauer der Aus- und Weiterbildung zu verkürzen.
In den vergangenen Jahrzehnten nahm das Wissen, das für die kompetente Ausübung eines ärztlichen Berufes notwendig ist, kontinuierlich zu. Dies führte zu einer Differenzierung der Medizin in verschiedene Disziplinen, und als Folge davon gibt es heute in der Schweiz 46 unterschiedliche Facharzttitel.
Die beträchtliche Zunahme des zu vermittelnden Wissens in der Medizin wirft die Frage auf, welcher Teil dieses Wissens im Medizinstudium gelehrt und geprüft werden soll. Eine erste Antwort lieferten der Lernzielkatalog von 2002 und die zweite Version von 2008. Der Katalog wurde danach gründlich überarbeitet und 2016 durch ein neues Dokument, das nun PROFILES (Principal Objectives For Integrated Learning and Education in Switzerland) genannt wird, ersetzt.
Konzeptionell und strukturell hatte und hat die Differenzierung der Medizin in die verschiedenen Dis­ziplinen für die medizinische Ausbildung bisher keine Bedeutung. Es scheint immer noch den einen Arzt respektive die eine Ärztin zu geben, die es aus­zubilden gilt. Die einzigen Ausnahmen sind die Zahnmedizin (vom Beginn der universitären Ausbildung im frühen 20. Jahrhundert an) und seit ein paar Jahren die Chiropraktik. Hier erhalten die Studierenden nach einem zwei- respektive vierjährigen gemein­samen Grundstudium mit den übrigen künftigen Medizinerinnen und Medizinern eine disziplin­spezifische Ausbildung. Im Gegensatz zur Medizin haben die Entwicklungen in den Ingenieurwissenschaften schon vor Jahrzehnten zu einer Reform der Ausbildung geführt. Nach einem Grundstudium von zwei Jahren entscheiden sich die Studierenden für eine der Disziplinen wie Elektrotechnik oder ­Ma­schinenbau.

Status quo: Spezialisierung nach dem Masterstudium

In der Medizin erfolgt die Spezialisierung erst nach dem Studium, nämlich in der Weiterbildung zum Facharzt respektive zur Fachärztin. Aus- und Weiterbildung, die Voraussetzung für eine selbständige Berufsausübung sind, dauern mindestens zwölf Jahre, meist länger. Das durchschnittliche Alter bei Erhalt des ersten Facharzt­titels lag 2020 laut Statistik des Schwei­zerischen Instituts für Weiter- und Fortbildung bei 36,6 Jahren.
Aus- und Weiterbildung dauern lang, zu lang. Es gibt keinen anderen Beruf, in dem jemand bis zur selbständigen Berufsausübung so alt werden muss. Die Auswirkungen dieser langen Dauer sind vor allem für Frauen bei der Familienplanung eine Herausforderung. Zwei Drittel aller Studierenden der Medizin in der Schweiz sind Frauen. Es ist sowohl wünschenswert als auch machbar, dass die Weiterbildung zum Facharzt spätestens mit dem Erreichen des dreissigsten Lebensjahres abgeschlossen werden kann.
Nach dem Medizinalberufegesetz (Kap. 2, Art. 3, Abs. 2) ist das Ziel des Medizinstudiums die Vermittlung der Grundlagen «zur Berufsausübung im betreffenden Medizinalberuf». Da es in der Medizin nicht den einen Beruf gibt, sondern 46 verschiedene Berufe – die Tätigkeiten eines Allgemeinmediziners und einer Gynäkologin sind so unterschiedlich, dass es inkorrekt ist, von einem einzigen Beruf zu sprechen –, stellt sich die Frage, was mit den im Gesetz erwähnten Grundlagen für die einzelnen Berufe gemeint ist. Das Medizinstudium ist seit hundert Jahren so strukturiert, als ob diese Grundlagen für alle Berufe identisch und sechs Jahre für deren Vermittlung nötig wären. Folglich ist ein Grossteil dessen, was an sogenannten Grundlagen vermittelt wird, wenige Wochen nach den Prüfungen vergessen und wird im späteren Berufsleben nie mehr benötigt. Die einen schätzen diesen Anteil an für die spätere Berufsausübung irrelevantem Wissen auf mindestens die Hälfte, andere auf 80 Prozent (genau fest­legen lässt sich das nicht). Welcher Teil dieser in sechs Jahren gelehrten Grundlagen relevant ist, lässt sich nicht verallgemeinernd sagen, sondern ist von der ­späteren beruflichen Tätigkeit abhängig. Ein noch zu definierender Teil dieses Wissens ist aber für alle Medizinerinnen und Mediziner relevant.
Abbildung 2: Grundstruktur der derzeitigen Aus- und Weiterbildung heute 
und das ­Konzept für die zukünftige Aus- und Weiterbildung.
Die drei Tatsachen,
– dass es den einen Arzt / die eine Ärztin, der/die einen Überblick über die gesamte Medizin hat, nicht gibt, sondern es sich dabei um ein überholtes Gedankenkonstrukt handelt,
– dass den Studierenden viele Grundlagen vermittelt werden, die für ihre spätere Berufsausübung irrelevant sind, und
– dass die kostspielige Aus- und Fortbildung sehr lange dauert,
wären Grund genug für eine umfassende Reform der medizinischen Aus- und Weiterbildung.
Das leitende Prinzip einer grundlegenden Reform ist eine frühere Spezialisierung in einer der medizinischen Disziplinen, wie sie in der Abbildung 2 schematisch dargestellt ist.

Wünschenswert: nach dem Grund­studium die Spezialisierung

Anstelle des aktuellen Systems sollte die Spezialisierung, die mit einem Master- und danach mit einem Facharzttitel abgeschlossen wird, nach einem kürzeren Grundstudium und nicht erst nach einem sechs­jährigen Studium beginnen.
Das Grundstudium würde aus zwei Teilen bestehen. Im ersten Teil wird gelehrt, was alle Studierenden, unabhängig von der Disziplin, in der sie im späteren Berufsleben tätig sein werden, wissen und können müssen. Dazu gehören Kenntnisse über die Anatomie und die Funktion des menschlichen Körpers, die Theorie der Medizin (Konzepte und Prinzipien der Medizin) oder die Kommunikation mit Patientinnen und Pa­tienten. Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Die konkreten Inhalte müssten von einem interdisziplinären Gremium, be­stehend vorwiegend aus praktizierenden Ärztinnen und Ärzten, erarbeitet werden. Im zweiten Teil des Grundstudiums werden die Studierenden über die verschiedenen Disziplinen der Medizin ausführlich informiert und erhalten die Möglichkeit, einige davon, beispielsweise durch Praktika, vertieft kennenzulernen. Diese Erfahrungen sind notwendig, um sich für das Masterstudium in einer der Disziplinen entscheiden zu können.
Aus verschiedenen Gründen, vor allem organisatorischen, wäre es nicht sinnvoll, 46 Masterstudiengänge zu entwickeln und anzubieten. Eine derartige Liste müsste gröber ausfallen und würde wahrscheinlich die folgenden Disziplinen beinhalten: Allgemeine Innere Medizin, Pädiatrie, Chirurgie, Psychiatrie, Neurologie, Radiologie, Gynäkologie/Geburtshilfe, Ophthalmologie und Oto-Rhino-Laryngologie. Diese Liste ist nicht umfassend, sondern als Diskussionsgrundlage für die Erstellung eines Sets an möglichen Master­studiengängen zu betrachten. Die Curricula der einzelnen Masterstudiengänge sollten voneinander nicht vollkommen unabhängig sein. Beispielsweise wären ­Studierende des Masterstudiums in Ophthalmologie verpflichtet, einen Teil des Inhalts des Masterstudiengangs Allgemeine Innere Medizin zu lernen. Denn das Wissen über Vaskulitiden und Diabetologie ist für beide Fachrichtungen wichtig.
Ein Teil der Weiterbildungsinhalte könnte im beschriebenen Modell bereits im Masterstudium gelehrt ­werden. Mit der Reduktion der Lehrinhalte auf das ­Wesentliche und der Vermittlung von Weiterbildungsinhalten können die Weiterbildungszeit und damit die Zeit bis zum Erhalt des Facharzttitels verkürzt werden. Ziel ist es, mit einer qualitativ hochstehenden Lehre, fokussiert auf die für die jeweilige Disziplin relevanten Wissensinhalte, kompetente Medizinerinnen und ­Mediziner auszubilden.

Einwände gegen eine derartige Reform

Aus den Reaktionen bei Diskussionen dieses Vorschlags sind mir die Einwände gegen eine solche ­Reform zumindest teilweise bekannt. Sie lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:
1. Die frühe Entscheidung für eine Disziplin ist eine zu schwierige Aufgabe für viele Studierende. Es gibt im zweiten Teil des Grundstudiums genügend Zeit, um die angehenden Medizinerinnen und Mediziner sorgfältig auf diese Entscheidung vorzubereiten. Vertreter der unterschiedlichen Disziplinen stellen ihre Disziplin ausführlich vor. Zudem ist es gedacht, dass die Studierenden in mehreren Disziplinen ein Praktikum absolvieren könnten – wie Jugendliche, die sich für eine Berufslehre entscheiden müssen –, um sich ein Bild der unterschiedlichen Disziplinen und des zukünftigen Berufs zu machen.
2. Die Bedeutung der vorklinischen/theoretischen Fächer nimmt ab. Dieses Argument kann damit entkräftet werden, dass Vertreter der Grundlagenfächer, zum Beispiel der Anatomie oder der Zellbiologie, auch in den verschiedenen Masterstudiengängen und in der Weiterbildung lehren.
3. Ein so reformierter schweizerischer Masterabschluss wird im Ausland nicht anerkannt. Ob die Abschlüsse nach neuartig orientiertem Medizinstudium an­erkannt würden, ist noch nicht voraussehbar. Die ­Reform hat zum Ziel, die Qualität der medizinischen Aus- und Weiterbildung zu verbessern. Bei gleichbleibender oder höherer Qualität der Schweizer Abschlüsse ist nicht einzusehen, weshalb diese im Ausland nicht akzeptiert werden sollten. Ähn­liche Reformen sind auch in anderen Ländern denkbar. Zudem werden in der Schweiz in erster Linie Fachkräfte für den hiesigen Bedarf ausgebildet. Schliesslich steht die Frage im Raum, ob wegen jener schätzungsweise weniger als fünf Prozent der Absolventinnen und Absolventen, die möglicherweise einmal im Ausland eine Praxis eröffnen möchten, eine grundlegende Reform der Aus- und Weiterbildung blockiert werden darf. Der allergrösste Teil derjenigen, die ins Ausland gehen, tut dies zu Forschungszwecken; wozu bereits heute kein anerkannter Facharztabschluss nötig ist.
4. Den so Ausgebildeten fehle am Ende des Studiums die medizinische Allgemeinbildung. Das Medizinstudium ist eine berufsvorbereitende Ausbildung (laut Medizinberufe-Gesetz vermittelt die Ausbildung die Grundlagen für die Berufsausübung) und keine allgemeinbildende Ausbildung. (Zudem hat meines Wissens noch niemand spezifiziert, was eine medizinische Allgemeinbildung beinhalten würde.)
Es ist an der Zeit, eine grundlegende und nicht nur kosmetische Reform des Medizinstudiums durchzuführen. Dass sich die Medizin in verschiedene Disziplinen aufgespalten hat, sollte sich auch in der Konzeption der Ausbildung durch eine frühere Spezialisierung spiegeln. Damit kann die Dauer der Aus- und Weiterbildung verkürzt werden, ohne dass die Qualität der Wissensvermittlung und schliesslich der medizinischen Versorgung geschmälert wird.

Das Wichtigste in Kürze

• Die heutige Konzeption des Medizinstudiums trägt der Aufschlüsselung in 46 verschiedene Disziplinen nicht Rechnung.
• Heute erfolgt die Spezialisierung nach dem sechsjährigen Medizinstudium. Aus- und Weiterbildung, die Voraussetzung für eine selbständige Berufsausübung sind, dauern mindestens zwölf Jahre. Die negativen Auswirkungen dessen zeigen sich etwa in der Familienplanung von Ärztinnen und Ärzten.
• Daher muss laut dem Autor die Spezialisierung früher im Studium beginnen, wodurch die Zeit der Aus- und Weiterbildung insgesamt verkürzt werden könnte.

L’essentiel en bref

• La conception actuelle des études de médecine ne tient pas compte de la répartition en 46 disciplines différentes.
• Aujourd’hui, la spécialisation se fait après les six années d’études de médecine. Celles-ci et la formation postgrade durent au moins douze ans. Les effets négatifs de cette situation se répercutent notamment sur la planification de la vie familiale des médecins.
• Par conséquent, la spécialisation doit, selon l’auteur, commencer plus tôt durant les études, ce qui pourrait raccourcir la durée de la formation prégraduée et postgraduée.
Prof. em. Dr. med. Johann Steurer
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Johann.steurer[at]usz.ch