Über die störenden Angehörigen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19956
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(2728):940

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 06.07.2021

Die hochbetagte Dame hatte sich gerade im ange­sehenen Pflegeheim eingelebt. Das Personal dort war freundlich. Die engagierte Hausärztin kam immer ­wieder von sich aus vorbei. Die Angehörigen lebten entfernt, kamen aber immer wieder zu Besuch. Und das Telefon tat seine Dienste.
Gesundheitlich ging es ihr einigermassen gut. Nur der Trigeminus machte ihr immer wieder recht unangenehm zu schaffen.
Schon als Besuche beim Arzt oder bei der Ärztin noch möglich waren, hatten die Angehörigen bemerkt, dass die Dame dort nicht mehr recht verstand, worum es ging. Und sowieso: Ärzte waren für sie Respektspersonen. Man fragt nicht nach. Gegenseitiges Nicht-Ver­stehen und Missverständnisse waren die Folge. Den Medizinern war das nicht so aufgefallen. Es brauchte die Angehörigen mit ihrer Erfahrung als Vertrauens-, Vermittlungs- und Verhandlungspersonen für eine ­geglückte kooperative Versorgung. Also begleiteten sie die Dame, wenn es ging – und dies in aller Vorsicht.
Im Pflegeheim dann setzen sich diese Probleme fort. Irgendwann werden die Schmerzen noch heftiger, aber die Dame schafft es nicht, dies deutlich zu machen. Ihren Angehörigen will sie zuerst keine Umstände bereiten. Schliesslich bittet sie diese doch um Unterstützung – ob sie für eine schmerzstillendere Medikation sorgen könnten?
Und so macht sich der eine Angehörige – ausgestattet mit allen Vollmachten – ans Werk. Er will aber niemanden stören. Das Personal ist bekanntlich ständig überlastet. Wann ist es gut, auf der Station anzurufen? Wer versteckt sich hinter schnell und hektisch gesprochenen Vornamen? Wie oft darf man nachfragen? Wie viele Zweifel darf man äussern? Er will nicht dem ebenso alten wie hartnäckigen Klischee der «schwierigen Angehörigen» zudienen.
Dann eine informierte Ansprechperson. Schmerzen? Nein! Die hochbetagte Dame habe gesagt, sie hätte keine Schmerzen. Sie auf der Station würden das schon in der Hand haben. Punkt. Fertig. Versuch gescheitert, bevor er richtig begann.
Neuer Versuch: Eine der engagiert-freundlichen Hochdruck-MPAs der Arztpraxis am Telefon. Nein, die Ärztin sei nicht zu sprechen. Aber sie würde sowieso einen Besuch im Heim machen und das alles regeln.
Er fragt, wie man der Ärztin trotzdem eine Nachricht hinterlassen könne, um Missverständnisse zu vermeiden? Man will ja nicht stören. Ja, er könne etwas per ­E-Mail schicken.
Der Angehörige schickt einen erklärenden Text. Und hört nichts mehr. Die hochbetagte Dame kann nur ­sagen, dass die Ärztin da war und etwas geregelt habe. Also schickt er ein weiteres Mail an die Ärztin mit der Bitte um Information, wie die Medikation ver­ändert wurde. Man will ja nicht aufdringlich sein. Schweigen.
Also noch eine Nachfrage. Ob das E-Mail überhaupt ­angekommen sei? Endlich eine Mail-Antwort: Solche Informationen können per Mail nicht gegeben werden. Man solle anrufen. Und überhaupt: «Frau Dr. hat bereits alles geregelt.»
In der Zwischenzeit sind Wochen vergangen. Auch mit Anläufen, die an Anrufbeantwortern, Vertröstungen, Praxisschliessungen und ständig wechselnden, allesamt freundlichen Ansprechpersonen gescheitert sind. Auf seiner Aufgabenliste steht der Angehörige noch auf Feld eins. Sein verlässlicher Informationsstand ist immer noch: null. Das System hat ihn mit ­einem Lächeln «am ausgestreckten Arm verhungern lassen». Er konnte kein Übersetzer, keine Vermittlungsperson sein. Die Nährlösung für Missverstehen und Missverständnisse für nicht gelungene Versorgung wirkt weiter.
Das nächste Mal steigt er offensiv ins System ein. Nicht locker lassen. Sofort nachhaken. Seine Rolle als anerkannter und notwendiger Player im Versorgungsprozess einfordern. Zur Not auf die Nerven gehen. ­Dabei muss er aber den «störenden Angehörigen» ­geben.
Er kann den Konflikt aushalten. Was aber, wenn die hochbetagte Dame, die Schwächste, die Folgen zu spüren bekommt?
Stück für Stück erfährt der Angehörige über Umwege, dass er mit seinen zurückhaltenden Bemühungen dies und das ausgelöst hat. Die eindrucksvollste Auswirkung: Eine der Pflegekräfte ging zur hochbetagten Dame und beschwerte sich bei ihr. Es ginge nicht an, dass sich die Angehörigen in die Pflege einmischten.
eberhard.wolff[at]ehm.ch