Update Notarztwesen Schweiz – Föderalismus live

FMH
Ausgabe
2021/26
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19973
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(26):869-872

Affiliations
a Dr. med., Facharzt für Anästhesiologie, FA Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR), Chefarzt Schutz & Rettung Zürich; b Dr. med., Facharzt für Anästhesiologie, FA Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR), Vorsitzender Notarzt-Faculty der SGNOR, Ärztlicher Leiter Sanität Basel; c MSc, MBA, Leiter Rettung St. Gallen; d Geschäftsführerin SGNOR; e Prof. em. Dr. med., Facharzt für Anästhesie, Facharzt für Intensivmedizin

Publiziert am 29.06.2021

Um etwas Licht ins Dunkel der prähospitalen medizinischen Versorgung in der Schweiz zu bringen, gelangte die SGNOR mit einer Umfrage an 124 Rettungsdienste; Fokus waren die Organisation des Notarztsystems sowie dessen Tarifstruktur.
Wer mit Zug oder Auto von Romanshorn nach Genf oder von Schaffhausen nach Chiasso unterwegs ist, sieht unterschiedlichste Landschaften, hört verschiedene Dialekte und Sprachen. Nur wenig bewusst mag aber sein, dass sich auf dieser Reise nicht nur Region und Sprache ändern, sondern auch die «Rettungslandschaft»: denn die Schweiz wäre nicht die Schweiz, wenn nicht auch hier der Föderalismus gelebt würde, und das so ausgeprägt wie sonst in kaum einem anderen Bereich. Die medizinische Notfallversorgung wird zwar durchwegs von Rettungsdiensten sichergestellt, aber für schwer verletzte oder kritisch kranke Patientinnen und Patienten gibt es verschiedenste Versorgungs­modelle, vor allem auf personeller Ebene. Während bei dem einen Rettungsdienst Notärztinnen mit Fähigkeitsausweis Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR) und vielen Jahren klinischer und prähospitaler Erfahrung, oft mit Facharzttitel Anästhesie oder Allgemeine Innere Medizin im Einsatz sind, um schwer Verletzte oder kritisch Kranke zu behandeln, gibt es in anderen Regionen Systeme ohne Notärztinnen und Notärzte. Ersatzweise kommen Anästhesiepflege-Fachpersonen mit erweiterten Handlungskompetenzen zum Einsatz und es gibt Systeme, in denen von diplomierten Rettungssanitäterinnen und -sanitätern HF ­erwartet wird, dass sie das gesamte Einsatzspektrum beherrschen. Systeme ohne Notärztinnen und Notärzte berufen sich oft auf die Luftrettung als «notärztliches» Mittel. Diese kann jedoch meteobedingt nicht immer zum Einsatz kommen. Ergänzung finden Rettungsdienste in einigen vorwiegend ländlichen Regionen durch Haus- oder Notfallärztinnen und -ärzte.
Es ist keineswegs Ziel dieses Artikels, das eine oder ­andere System zu werten, sondern es soll die Vielfältigkeit der präklinischen Versorgung von kritisch verletzten oder erkrankten Patientinnen und Patienten ­aufzeigen. Es bleibt der Leserschaft überlassen zu ­entscheiden, welches System sie – als Patientin oder Pa­tient – bevorzugt, wobei in der Realität keine Wahl ­besteht. Ähnlich der medizinischen Versorgungs­intensität sind auch die Tarife ein eindrücklicher ­«bunter Blumenstrauss» mit einer grossen Bandbreite und spiegeln auf ihre Weise das föderativ gelebte ­helvetische Gesundheitssystem wieder. Im Hinblick auf das zunehmende Kostenbewusstsein im Ge­sundheits­wesen bekommt dieser Aspekt aber zu­nehmend Bedeutung. Zugleich muss angemerkt werden, dass das Rettungswesen nur einen geringen Anteil der gesamten medizinischen Ausgaben in der Schweiz beansprucht (1,6 Prozent für Transport und Rettung) [1].
Um etwas Licht ins Dunkel der prähospitalen notfallmedizinischen Versorgung – aber auch deren Finanzierung – in der Schweiz zu bringen, gelangte die SGNOR mit einer Umfrage an 124 Rettungsdienste der Schweiz. Fokus der Erhebung waren Fragen zur Organisation des Notarztsystems – sofern denn überhaupt vorhanden – sowie dessen Tarifstruktur. Die Antwortquote war erfreulich hoch: von 90 in der Deutschschweiz versendeten Fragebogen wurden 61 beantwortet (68 Prozent), in der Romandie 21 von 30 (70 Prozent) und im Tessin 4 von 4 (100 Prozent).
Im Folgenden zusammengefasst die wichtigsten Resultate:

Gibt es in Ihrem Rettungsdienst ein «Notarztsystem»?

In der Deutschschweiz besteht in 65,5 Prozent der angefragten Rettungsdienste ein Notarztsystem, (Romandie 94,44 Prozent, Tessin 100 Prozent). Als Alternative wurde öfters genannt, dass Fachpersonen Anästhesiepflege anstelle von Notärztinnen und Notärzten eingesetzt werden. Andere Systeme wiederum basieren auf den diensthabenden Notfallärztinnen und -ärzten – zum Teil auch nur für telefonischen medizinischen Rat – oder auf Notärztinnen und -ärzten aus Nachbar­kantonen (sofern zum Beispiel die Luftrettung nicht verfügbar ist).

Wie ist der Notarztdienst organisiert?

In der Organisation des Notarztsystems zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Sprachregionen: In der Romandie überwiegt klar eine spitalgebundene Struktur, im Tessin werden Ärztinnen und Ärzte ­sowohl Spital- wie auch Rettungsdienst-basiert ein­gesetzt. In der Deutschschweiz zeigt sich eine grössere Heterogenität (Spital, Rettungsdienst, Hausärztin, «Freelancer» und andere). Es scheint, dass ein Rettungs­system ohne Notärztinnen und -ärzte nur in der Deutschschweiz eine Option ist.

Wie kommt die Notärztin an den Einsatzort?

Ob die Notärztin oder der Notarzt mit eigenem Fahrpersonal und einem Notarzteinsatzfahrzeug (NEF), kompakt im Rettungswagen (RTW) oder selbstfahrend, ausrückt, wird durch mehrere Gründe mitbestimmt. Dabei sind die Ressourcen und Finanzen für Fahrerin und Fahrer und NEF zu berücksichtigen, Synergien mit anderen Organisationen sind möglich (zum Beispiel Feuerwehr oder Polizei). Für ein «Rendez-vous-System» mit NEF spricht die höhere Flexibilität des Systems, für eine zusätzliche Fahrerperson Ortskenntnisse und Fahrpraxis, was der Sicherheit dient.
Abbildung 1: Wie der Notarztdienst in der Deutschschweiz (grün), in der Romandie (rot) und im Tessin (blau) organisiert ist.
Selbstfahrerinnen und -fahrer dürften mehrheitlich erfahrene Notärztinnen und Notärzte sein, welche fix bei einem Rettungsdienst arbeiten oder aus Praxis, Wohnung oder sonstigen Lokationen direkt ausrücken. Was zunächst ressourcenschonend erscheint, kann im Einsatz logistische Probleme aufwerfen: Entscheidet die Notärztin oder der Notarzt, die zu be­handelnde Person im Rettungswagen zum Zielspital zu begleiten, muss das eigene Fahrzeug entweder stehen gelassen oder von einer der Rettungssanitäterinnen oder -sanitäter gefahren werden, die dann aber im RTW nicht zur Verfügung steht.

Welche Weiterbildung, welchen ­Ausbildungsstand haben die eingesetzten Notärztinnen und Notärzte?

Hier zeigt sich, dass ein relevant hoher Anteil der eingesetzten Notärztinnen und Notärzte sich entweder in Weiterbildung befindet oder aber eine andere Weiterbildung als den FA Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR) haben. Der hohe Weiterbildungsanteil in der Deutschschweiz legt nahe, dass vor allem aus Kostengründen eher jüngere Personen eingesetzt werden, die aber nach abgeschlossener Weiterbildung aus strukturellen Gründen oft nicht mehr als aktive Notärztinnen beziehungsweise Notärzte vorgesehen sind. Ein derartiges System offenbart den Widerspruch, dass mit dem Abschluss einer Weiterbildung die eigentlich angestrebte Berufstätigkeit beendet wird. Da die Weiterbildung erhebliche Ressourcen benötigt, neu auch mit definierten supervisierten Einsätzen, stellt sich die berechtigte Frage, ob dieser hohe Weiterbildungsanteil an Notärztinnen und Notärzten sinnvoll ist. Gleichzeitig werden mit einem derartigen System den vital bedrohten Personen erfahrene Notärztinnen und Notärzte mit abgeschlossener Weiterbildung vorenthalten.
Abbildung 2: Wie die Notärztin oder der Notarzt an den Einsatzort gelangt, Deutschschweiz: grün, Romandie: rot, Tessin: blau.
In der Romandie und im Tessin kommen gemäss ­Umfrage mehrheitlich Notärztinnen und Notärzte mit Fähigkeitsausweis Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR) zum Einsatz. Dies kann daran liegen, dass Notärztinnen und Notärzte mit Fähigkeitsausweis ­länger im Einsatz verbleiben. Der hohe Anteil ausgebildeter Notärztinnen und -ärzte im Tessin kann mit im Rettungsdienst fest angestellten Notärztinnen und -ärzten erklärt werden. Bei der Interpretation muss die kleine Zahl an Rückmeldungen berücksichtigt werden.
Die Ausbildung der Rettungssanitäterinnen und -sanitäter HF hat sich in der Schweiz während der letzten Jahrzehnte massgeblich verbessert und ist zu einem gut strukturierten, anerkannten und verantwortungsvollen Berufsbild geworden. Die Ärztlichen Leiterinnen und Leiter der Rettungsdienste können viele ärztliche Massnahmen an Rettungssanitäterinnen und -sanitäter HF delegieren. Bei vitaler Bedrohung einer Patientin oder eines Patienten ist jedoch der Einsatz ­einer qualifizierten Notärztin beziehungsweise eines Notarztes vor Ort sinnvoll. Hier seien beispielhaft instabile Patientinnen und Patienten in komplexen medizi­nischen Situationen oder nach schwerem Trauma, ­Management des Atemwegs, End-Of-Life-Entscheidungen, forensisch relevante Entscheidungen betreffend Spitaleinweisung sowie Reanimationen erwähnt. Wenn in solchen komplexen Situationen Rettungssanitäterinnen und -sanitäter HF Unterstützung erhalten, muss aber auch sichergestellt werden, dass ein echter Kompetenzzuwachs vor Ort kommt.

Wie wird der Notarztdienst verrechnet (ohne Fahrerperson und Materialkosten)? Wie hoch ist dieser Betrag?

Ein gesamtschweizerischer Tarifvergleich 2014 im ­Bereich Bodenrettung [2] hatte bei einem Notarzteinsatz für eine vital beeinträchtigte Person eine Spanne zwischen 832 Franken für den günstigsten und 1881 Franken (mit Nachtzuschlag 2144 Franken) für den ­teuersten Rettungsdienst ergeben. Die Analyse hatte gezeigt, dass die Streuung der verrechneten Preise in der Schweiz sehr gross ist. Bei diesen Einsätzen verrechneten die teuersten Institutionen mehr als zweimal so viel wie die günstigsten.
Abbildung 3: Welchen Ausbildungsstand die eingesetzten Notärztinnen und -ärzte in der Deutschschweiz (grün), in der Romandie (rot) und im Tessin (blau) haben.
In der Umfrage wurden sowohl eine stundenbasierte Verrechnung (15 Prozent), als auch Pauschalen (85 Prozent) zurückgemeldet. Neben den Tarifpositionen für die ärztlichen Leistungen gibt es in mehreren Organisationen Tarifpositionen für Bereitstellungskosten, beispielsweise eine Pauschale für ein Notarzteinsatzfahrzeug. Die Art der Verrechnung sagt nichts über die Finanzierung des Notarztdienstes. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass der Notarztdienst nicht kostendeckend betrieben werden kann, wenn eine Vollkostenrechnung zugrunde gelegt wird. Auf Grund der selektiven Notarztindikationen liegt der Anteil an einsatzfreier Zeit bei einem Notarztdienst wesentlich höher als beim Rettungsdienst. Wenn diese Vorhaltekosten auf Einsätze umgelegt werden, sind die Einsatzkosten pro Einsatz sehr hoch. Bei spitalgestützten Notarztdiensten gibt es Synergien mit Spitälern. Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Verfügbarkeit von Notärztinnen und -ärzten, unter Berücksichtigung der zeitlichen Aspekte, für ein möglichst grosses Gebiet und unabhängig der Einsatzgebiete von Rettungsdiensten sinnvoll.

Résumé der Autoren

Bei allem Respekt für die föderalen Besonderheiten kann die «Rettungslandschaft» Schweiz vielleicht von etwas mehr Homogenität profitieren – zumindest hinsichtlich personeller Qualitätskriterien. Die Organisationsform des Notarztdienstes sollte den regionalen Bedürfnissen der jeweiligen Rettungsdienste angepasst sein; Stadt-/Land-Problematik, Einsatzaufkommen, Distanzen, Lokalisation von Rettungsstützpunkten und der Notärztin beziehungsweise des Notarztes bestimmen über Vor- und Nachteile von Rendez-vous versus stationäre («Kompakt-») versus Selbstfahrsystemen. Aus- und Weiterbildung entsprechend dem FA Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR) ist unabdingbar; sie soll aber die Vorbereitung qualifizierter Notärztinnen und Notärzte für ihren späteren längerfristigen Einsatz im Rettungsdienst sein und kein Etikettenschwindel zur Kostenreduktion der Leistungs­erbringer.
Ein höherer Prozentsatz erfahrener Notärztinnen und Notärzte mit FA Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR) fördern Teamkonstanz und Kontinuität der Versorgungsqualität und muss daher unbedingt an­gestrebt werden. Auch wenn Rettungsdienst-Tarife zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern ­verhandelt werden, ist eine geringere Varianz der Einsatzkosten ein wichtiges Signal und könnte den regelmässigen Berichten über «Wildwuchs» [3] und «Preistreiberei» [4] in den Medien den Nährboden entziehen. Zumindest ärztlicherseits wäre eine nationale Pauschale für den Notarzteinsatz im neuen Tardoc-System ein wichtiges gesamtschweizerisches Signal [5] – dies umso mehr, als die Notfallkosten zu einem hohen Prozentsatz oder gar umfänglich von den Patientinnen und Patienten direkt getragen werden müssen.
Dr. med. Stefan Müller
Schutz & Rettung Zürich
Neumühlequai 40
Postfach 3251
CH-8021 Zürich
stefan.mueller[at]zuerich.ch
1 EDI, Bundesamt für Statistik. Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens 2008, Medienmitteilung. T6: Kosten des Gesundheitswesens nach Leistungen. www.bfs.admin.ch
2 Iseli S. Gesamtschweizerischer Tarifvergleich 2014 im Bereich ­Bodenrettung. ED WBF, Preisüberwachung. Bern 2014. www.­preisueberwacher.admin.ch
5 Leitbild der FMH zur Medizinischen Notfallversorgung in der Schweiz. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(7):234–8. fmh.ch/files/pdf25/leitbild-der-fmh-zur-medizinischen-notfallversorgung-in-der-schweiz.pdf