Gesundheitskosten: Mythen und Fakten reloaded

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2021/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19983
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(33):1045-1047

Affiliations
Dr. med., Kommission «Strategie und Kommunikation» der Schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie (SGDV)

Publiziert am 18.08.2021

Obwohl die Schweiz weltweit eines der qualitativ besten Gesundheitswesen mit zu anderen europäischen Ländern vergleichbaren Kosten aufweist, werden politische Sparmassnahmen diskutiert, die das System gefährden. Die folgende Analyse bringt Fakten und Lösungsansätze.
Namhafte internationale Untersuchungen bestätigen, dass die Schweiz eines der weltweit besten Gesundheitssysteme aufweist [1, 2]. Der Zugang zu Behandlungen ist sehr gut, die Wartezeiten sind kurz [3]. Ein aktueller Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) zeigt, dass die Menschen mit der Qualität des Gesundheitswesens im Vergleich mit anderen Ländern hochzufrieden sind [4]. Es ist deswegen unabdingbar, dass wir Ärztinnen und Ärzte uns dafür einsetzen, diese hohe Qualität zu erhalten. Denn in letzter Konsequenz sind wir es und nicht die politisch fachfremden Verantwortlichen, welche die aktuell diskutierten Leistungseinschränkungen gegenüber unseren Patientinnen und Patienten verantworten und auch rechtfertigen müssen.
Bis zum Jahr 2014 war die gesundheitspolitische Welt intakt: Die Gesundheitskosten, welche gerne als Relation zum Bruttoinlandprodukt (BIP) dargestellt werden, ­lagen damals mit 11,1% gleichauf mit umgebenden europäischen Ländern. Bereits im Jahr darauf stieg das Verhältnis jedoch deutlich auf 11,9% an. Das für diese Zahlen verantwortliche Bundesamt für Statistik (BfS) [5] begründete diese Veränderung unter anderem mit einer neuen Berechnungsmethode. In den Jahren 2016 und 2017 wurden 12,2 respektive 12,4% publiziert. Daraufhin wurden politisch und medial Massnahmen gegen die angeblich überdurchschnittlich ansteigenden Kosten gefordert.

Politischer Aktionismus im ­Gesundheitswesen

Es kam zu den bekannten bundesrätlichen Tarifeingriffen, welche die Sprechstundenzeit auf 20 Minuten und die Vergütung für Spezialistentätigkeiten einschränkten. Aus einem Katalog von 38 Massnahmen zur Senkung der Gesundheitskosten [6] entstanden zwei Kostendämpfungs-Massnahmenpakete, welche aktuell im Parlament diskutiert werden [7]. Die einschneidendsten Massnahmen sind die geplante Abschaffung der freien Arztwahl («Erstberatungsstelle») sowie die Einführung eines Globalbudgets («Zielvorgaben für Kosten im Gesundheitswesen»). Letztere wird als indirekter Gegenvorschlag zur CVP-Initiative «Kostenbremse im Gesundheitswesen» lanciert [8]. Auch die SP plant, mit ihrer «Prämien-Entlastungs-Initiative» die Problematik anzugehen [9].

Das Narrativ der europaweit höchsten Gesundheitskosten ist falsch

Ende Oktober 2020 hat das BfS die Daten zu den Gesundheitskosten wiederum retrospektiv um etwa einen Prozentpunkt nach unten korrigiert. Es zeigt sich, dass die Schweiz im Jahr 2018 bei einem Anteil von 11,2% am BIP auf Platz 4 hinter den USA, Deutschland und Frankreich weiterhin auf Augenhöhe mit anderen europäischen Ländern liegt [5]. Es ist indes richtig, dass die Gesundheitskosten jährlich gestiegen sind. Der Anstieg der OKP-Kosten wie auch derjenige der Krankenkassenprämien fielen in den letzten Jahren jedoch zunehmend kleiner aus [10–12].

Nutzensteigerung im Gesundheitswesen nicht unbeachtet lassen

Die Nutzenexplosion im Gesundheitswesen durch ­zunehmende medizinische Innovationen ist unbestritten [13]. Es gibt heute 40% weniger verlorene ­Lebensjahre durch frühe Todesfälle als 1996. Auch die Krebsmortalität ist seither um einen Drittel gesunken. In den letzten 100 Jahren stieg die Lebens­erwartung von 50 auf 80 Jahre an [12], was einer der höchsten weltweit entspricht [14]. Durch zeitge­mässe Behandlungen konnte bei verschiedenen Erkran­kungsbildern, in der Dermatologie beispielsweise bei Psoriasis und Neurodermitis, die Lebens­qualität von Patientinnen und Patienten erheblich verbessert ­werden.

Demographische Entwicklung und medizinische Innovationen als Haupttreiber

Die demographische Entwicklung als unvermeidlicher Haupttreiber des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen habe ich bereits 2018 in dieser Zeitung beschrieben [15]: Verantwortlich dafür sind die europaweit höchste Zuwanderungsrate (>1% pro Jahr) und die zunehmende Überalterung der Bevölkerung. Im Jahr 2045 wird der Anteil der >65-jährigen Menschen um über 84% zugenommen haben.

Nachfrage zum Luxusgut «Gesundheit» steigt mit dem Wohlstand

Verschiedene internationale Rankings zeigen die Schweiz hinsichtlich Lebensqualität auf den vor­ders­ten Plätzen [16]. Nicht umsonst haben wir auch kaufkraftbereinigt eines der weltweit höchsten Durchschnittseinkommen [17]. Das zunehmende durchschnittliche Haushaltsbruttoeinkommen hat in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass trotz prozentual gestiegener Ausgaben für Krankenkassenprämien der Sparanteil deutlich höher geworden ist [18].

Steigende Gesundheitskosten betreffen Menschen mit tiefen Einkommen überproportional

Je nach Kanton geben vierköpfige Familien mit tieferen Einkommen für Gesundheitskosten einen Anteil von bis zu 20% ihres Bruttoeinkommens aus [19]. Umfragen zeigen auch, dass Finanzierungsprobleme von Gesundheitsleistungen seit dem Jahr 2010 deutlich gestiegen sind [4]. Einer der hauptsächlichen Gründe dafür ist, dass der Selbstkostenanteil bei Krankheitsfällen in der Schweiz international gesehen hoch bzw. die staatliche Beteiligung an den Gesundheitskosten eher tief ist [20]. Diese Belastung muss durch sozialpolitische Massnahmen und nicht durch Leistungsbeschränkungen unter Kontrolle gebracht werden.

FMH und kantonale Ärztegesellschaften: Einheitliches Vorgehen der Ärzteschaft anstreben

Die Schweizerische Ärztegesellschaft FMH, welche den schwierigen Spagat zwischen den Grundversorgern und den Spezialisten zu leisten hat, wies mehrfach ­darauf hin, dass die Ärzteschaft mit einer Stimme auftreten muss.
Um die Tarifautonomie zurückzuerhalten, müssen –nachdem der Bundesrat kürzlich den TARDOC in der jetzigen Form abgelehnt hat – sämtliche Tarifpartner nun an einem Strang ziehen. Neben einem Einzel­leistungstarif machen Pauschaltarife bei gut stan­dar­disierbaren interventionellen Leistungen Sinn. In der regulären Sprechstunde führen sie jedoch zu ­Behandlungsminimalismus und positiver Risiko­selektion. Gerade für spezielle Patientengruppen wie polymorbiden Menschen oder solchen mit Behinderungen sowie für Kinder muss sich das ärzt­liche Engagement lohnen.

Fachgesellschaften: ­Fokus auf ­Qualität ­reduziert Kosten

Von Ärztinnen und Ärzten ist eine hohe Behandlungsqualität anzustreben. Die kürzlich verabschiedete KVG-Revision «Qualität und Wirtschaftlichkeit» [21] ist ein Schritt in die richtige Richtung. Sie darf aber nicht zu unverhältnismässigem Aufwand, unnötiger Bürokratie und hohen Regulationskosten führen. Möglichkeiten dafür bestehen in der Förderung und Umsetzung von evidenzbasierten Behandlungsleitlinien und Smarter-Medicine-Kriterien [22], der Verbesserung von Fort- und Weiterbildung sowie dem fachspezifischen Erarbeiten von Qualitäts- und Hygienekonzepten. Klar ist auch: Sogenannt «schwarze Schafe», die fachlich inkom­petent arbeiten, sind durch Standeskommissionen konsequent abzumahnen.

Ärztinnen und Ärzte: ­Informieren Sie über die gesundheits­politischen Vorgänge

Zusammengefasst besteht heute die politische Tendenz, das freiheitliche Gesundheitssystem zunehmend zu beschneiden. Es ist unser aller Aufgabe, eine Zweiklassenmedizin in der Schweiz zu vermeiden. Unser Staat muss der Bevölkerung nicht nur ein bezahlbares, sondern in erster Linie eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung garantieren. Sprechen Sie deswegen mit Ihren Patientinnen und Patienten über die zunehmenden Missstände im schweizerischen Gesundheitswesen. Schliesslich bestimmen diese als Wählerinnen und Wähler die entsprechenden Geschicke mit.
Dr. med. Daniel Mahler
Dermapraxis Luzern
Alpenstrasse 9
CH-6004 Luzern
Tel. 041 410 83 83
dermapraxis-luzern[at]hin.ch
 1 Healthcare Access and Quality Index based on mortality from causes amenable to personal health care in 195 countries and territories, 1990–2015: a novel analysis from the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet. 2017;390(10091):P231–66.
 2 Euro Health Consumer Index 2018 Report. Health Consumer Powerhouse Ltd., 2019.
 3 Kopetsch T. Facharzttermine im internationalen Vergleich: Geringe Wartezeiten in Deutschland. Dtsch Arztebl. 2015;112(31–32).
 4 Pahud O. Erfahrungen der Wohnbevölkerung ab 18 Jahren mit dem Gesundheitssystem – Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich. Analyse des International Health Policy (IHP) Survey 2020 der amerikanischen Stiftung Commonwealth Fund (CWF) im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Neuenburg: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium; Obsan Bericht 12/2020.
11 Beschlussprotokoll der ersten und zweiten Ärztekammer 2020. Schweiz Ärzteztg. 2021;102:45–72.
12 Interpharma: Gesundheitswesen Schweiz – Ausgabe 2019.
13 Schlup J, Wille N. Kostenexplosion? Nutzenexplosion! Synapse. 2019;3:6–8.
15 Mahler D. Gesundheitskosten: Mythen und Fakten: Schweiz Ärzteztg. 2018;99:1438–40.