Wenn Kinder und Jugendliche Angehörige betreuen

«Oft wissen nicht einmal ihre besten Freunde um die Situation»

Tribüne
Ausgabe
2021/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.19991
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(2930):970-972

Affiliations
Freier Journalist

Publiziert am 20.07.2021

Sie sind jung und betreuen ihre Angehörigen: «Young Carers». Damit ihre unbeschwerte Jugend nicht vorzeitig endet, brauchen sie ebenfalls Unterstützung. Ein Hochschulprogramm erforscht und verbessert die Situation von jungen Betreuenden. Ein Interview mit Programmleiterin Prof. Agnes Leu.

Zur Person

Prof. Agnes Leu ist Prorektorin Forschung der Careum Hochschule Gesundheit innerhalb der Kalaidos Fachhochschule Schweiz. Sie doktorierte in Rechtswissenschaften und habilitierte in Medizinethik an der Universität Basel. Seit 2014 ist sie Direk­torin des Programms «Young Carers» der Careum Hochschule Gesundheit. Daneben engagiert sie sich im Vorstand des Spitex Verbands Kanton Zürich.
Sie starteten 2014 an der Careum Hochschule Gesundheit ein Programm zum Thema «Young Carers». Wo steht das Programm heute?
Zu Beginn war uns die Situation von Young Carers in der Schweiz gänzlich unbekannt. Inzwischen konnten wir mehr als 20 Studien durchführen und wissen mittlerweile viel mehr darüber, wer Young Carers sind und wie es ihnen geht. Und wir haben erste Massnahmen umgesetzt, um die Situation dieser Kinder und Jugendlichen zu verbessern.
Wann ist jemand ein Young Carer, wie definieren Sie das?
Wir bezeichnen damit junge Menschen, die über eine längere Zeitspanne regelmässig gegenüber ihren An­gehörigen Aufgaben übernehmen, die normalerweise Erwachsene innehaben. Das geht also klar über ein «Ämtli» hinaus, wie regelmässig zu staubsaugen oder den Abfall zu entsorgen.
Was tun denn Young Carers?
Sie pflegen und betreuen die Mutter, den Vater, einen Grosselternteil, Geschwister oder andere Verwandte im Haushalt. Die Bandbreite ist dabei sehr gross. Das reicht von emotionaler Unterstützung über Einkaufen und Haushaltarbeiten bis zur Intimpflege und sogar dem Verabreichen von Spritzen. Oft kümmern sich Young Carers zusätzlich um ihre jüngeren Geschwister.
Was zeigen Ihre Studien, wie viele Young Carers gibt es in der Schweiz?
Es sind rund acht Prozent der 9- bis 15-Jährigen, im ­Alter von 16 bis 24 Jahren ist ihr Anteil noch leicht ­höher. Es gibt auch Kinder, die bereits im Alter von fünf Jahren eine solche Rolle übernehmen. Insgesamt sind es in der Schweiz rund 51 000 junge Menschen. Vielleicht ist diese Zahl noch zu tief, denn es ist nicht einfach, Young Carers zu identifizieren. Ihre Eltern oder sonstigen Angehörigen wollen nicht unbedingt, dass die Situation bekannt wird.
Sind Young Carers eher in Haushalten mit tiefem Einkommen zu finden?
In gewissen Ländern ist das der Fall, in der Schweiz ­allerdings nicht. Hier gibt es Young Carers in allen so­zialen Schichten. Es geht nur selten darum, dass sich eine betreute Person die professionelle Unterstützung nicht leisten kann.
Dass es überhaupt Young Carers gibt, bedeutet das, dass das professionelle System der Pflege und Betreuung versagt?
Das kann man so nicht sagen, denn die Betroffenen wollen die Hilfe des professionellen Systems manchmal gar nicht in Anspruch nehmen. Die Hilfsbedürftigkeit ist sowohl bei den betreuten Familienangehörigen selber wie auch den Young Carers oft mit Scham besetzt. So erfährt gar niemand davon, denn Young ­Carers sind im Alltag unauffällig. Oft wissen nicht einmal ihre besten Freunde um die Situation und in der Schule fallen sie erst auf, wenn sie unter Konzentra­tionsschwierigkeiten oder Schlafmangel leiden oder ihre Schulleistungen abnehmen.
Manche Young Carers empfinden Scham oder Schuld aufgrund ihrer Betreuungsrolle.
Wie geht es den Young Carers in der Schweiz?
Wenn wir sie nach ihrem Wohlbefinden fragen, ist ­dieses geringer ausgeprägt als bei Gleichaltrigen ohne Betreuungsaufgaben. Als belastend erleben Young ­Carers insbesondere pflegerische Tätigkeiten – und wenn ihre Mithilfe zeitlich sehr aufwendig ist und ihnen Zeit für Schule und Freizeit fehlt.
Ich will nicht ein zu düsteres Bild zeichnen. Ein Grossteil der befragten Young Carers schätzt ihren Gesundheitszustand als gut bis sehr gut ein. Ihre Aufgabe wirkt sich auch positiv aus, diese jungen Menschen ­haben zum Beispiel meist eine hohe Sozialkompetenz. Trotzdem besteht die Gefahr, dass die Betreuungsrolle das Ende einer unbeschwerten Kindheit bedeutet. Es geben doch rund 40 Prozent der Young Carers körper­liche und rund ein Drittel psychische Probleme aufgrund der Betreuungsrolle an. Insbesondere psychisch geht es den Young Carers deutlich schlechter als Gleichaltrigen ohne Betreuungsaufgaben.
Welche Probleme stehen dabei im Vordergrund?
Die Betroffenen mit Problemen leiden beispielsweise an Müdigkeit oder Rückenschmerzen und sind wegen der Betreuungsrolle traurig, besorgt, empfinden Scham oder Schuld. Ausserdem sind sie sozial öfter isoliert, weil sie keine Freunde mit nach Hause bringen wollen oder dürfen. Und sie haben weniger Zeit, ihren Hobbys und Aktivitäten mit Freundinnen und Freunden nachzugehen. Es kommt bei Young Carers auch häufiger zu Schulabsenzen und Ausbildungsabbrüchen. Dies kann ihre Zukunftsaussichten nachhaltig verschlechtern und damit die Chancengleichheit gefährden. Wie eine vergleichende europäische Studie gezeigt hat, ist die ­Situation der jungen Betreuenden in der Schweiz insgesamt schlechter als in anderen Ländern. Darüber bin ich schon erschrocken.
Wie lässt sich das erklären?
Es passt zum Bild, dass Jugendliche in der Schweiz ­allgemein ein schlechteres Befinden angeben als in anderen Ländern. Die Schweiz hat bekanntlich auch eine der höchsten Suizidraten bei Jugendlichen weltweit. Offensichtlich gelingt es uns zu wenig, Kinder und ­Jugendliche zu schützen. Das hängt sicher auch mit dem Leistungsdruck zusammen, etwa in der Schule.
Wo ist denn die Schwelle, ab der Young Caring ungesund wird? Wenn die Kinder und Jugendlichen selber sagen, sie seien überfordert?
Das Problem ist, dass insbesondere die jüngeren Carers das gar nicht erkennen. Für sie ist ihre unterstützende Rolle normal, sie kennen nichts anderes. Erst, wenn sie ab einem gewissen Alter mehr Einblick in andere ­Fa­milien erhalten, sehen sie andere Modelle und beginnen, ihre Rolle zu reflektieren. Bis zu einem gewissen Alter können Young Carers somit nicht «Stopp» ­sagen. Zu merken, dass etwas nicht stimmt, liegt deshalb an ihrem Umfeld – sei es ein Freund der Familie, eine ­Lehrerin oder die Spitex-Pflegefachpersonen.
Im Rahmen des Programms «Young Carers» werden auch Massnahmen zur Verbesserung der Situation umgesetzt. Worum geht es dabei?
Es braucht zweierlei. Einerseits eine Sensibilisierung von Fachpersonen und Organisationen, damit sie belastete Kinder und Jugendliche erkennen und die Situation ansprechen. Hier konnten wir mit Schulungen und Information in den letzten Jahren viel erreichen. Andererseits braucht es Angebote für die Young Carers selbst.
Welche Bedürfnisse haben diese?
In unseren Befragungen wünschen sie sich am häufigsten konkrete Hilfe im Zusammenhang mit ihrer Betreuungsaufgabe: Sie möchten beispielsweise Informationen darüber, wo sie im Notfall Hilfe holen können. Ausserdem wünschen sie sich mehr Zeit, ihren Hobbys nachzugehen. Und sie äusserten den Wunsch nach Austauschmöglichkeiten mit anderen Kindern und Jugendlichen in einer ähnlichen Situation. Solche Treffen haben wir denn auch initiiert – derzeit finden sie wegen Corona online statt. Diese Gruppen helfen Young Carers auch, aus der sozialen Isolation herauszukommen, in der sie sich manchmal befinden.
Stichwort Corona: Inwiefern hat die Pandemie die Situation von jungen Betreuenden verändert?
Die Pandemie trägt dazu bei, dass mehr Menschen krank sind und somit auch zu Hause Betreuung benötigen. Gleichzeitig waren oder sind Kinder und Jugend­liche wegen dem Lockdown mehr zu Hause, weil etwa die Schule online stattfindet oder Freizeitaktivitäten wegfallen. Das hat die Situation insgesamt verschärft: Es besteht ein grösserer Bedarf an Unterstützung durch Angehörige und potenzielle Young Carers sind zu Hause verfügbarer als sonst. Die Auswirkungen davon werden wir vermutlich noch lange in ansteigenden Zahlen von jungen Betreuenden sehen.
Wie wird sich das Phänomen Young Carers wohl in Zukunft entwickeln?
Es fällt auf, dass sich in vielen Ländern ein hoher Anteil der Young Carers um ihre Grosseltern kümmert. Die demografische Alterung und die Zunahme an dementiellen Erkrankungen könnte das Phänomen deshalb in Zukunft noch verstärken.
Sie haben die Sensibilisierung von Fachpersonen angesprochen. Was können Ärztinnen und Ärzte tun?
Sie können erwachsene Patientinnen und Patienten mit Betreuungsbedarf fragen, inwiefern Kinder und Jugendliche zu Hause entsprechende Aufgaben übernehmen und wie es diesen Young Carers damit geht. Oft sind die betreuten Erwachsenen schlicht nicht ­sensibilisiert für eine mögliche Überlastung der jungen Pflegenden. Hier können Ärztinnen und Ärzte auf entlastende professionelle Dienste hinweisen.
Wie geht es mit dem Programm «Young Carers» nun weiter?
Solange wir finanzielle Mittel finden, wollen wir die Forschung weiterführen, denn es gibt noch viele offene Fragen – etwa, wie es Young Carers später im Leben ergeht. Zudem wollen wir die Situation von Young Carers bei bestimmten Krankheiten besser verstehen. So haben wir eine Studie zu jungen Betreuenden in palliativen Situationen gestartet. Erfreulich ist insgesamt, dass wir dank dem Programm in der Schweiz heute viel besser Bescheid wissen als noch vor wenigen Jahren. So wie ich zu Beginn nach Grossbritannien blickte, um mich zu informieren, werden mein Team und ich heute von Ländern wie Frankreich und Finnland um Erfahrungen und wirksame Massnahmen ­angefragt, um die Situation von Young Carers zu verbessern.

Veranstaltung

Am 16. Mai 2022 findet in Lugano die dritte Konferenz zum Thema «Young Carers» statt, organisiert durch die Careum Hochschule Gesundheit. Nähere Informationen:
adrianritter[at]gmx.ch