Warum Kunst zur Medizin gehört

Horizonte
Ausgabe
2021/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20071
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(35):1145-1146

Affiliations
Prof. em., Dr. med., ehem. Chefarzt Innere Medizin, C.-L.-Lory-Haus, Inselspital Bern

Publiziert am 31.08.2021

Über den Umgang mit dem Menschen hinter der Krankheit in der medizinischen Praxis wird seit dem 17. Jahrhundert intensiv debattiert. In die Debatte hinein spielt die Frage, ob Medizin Wissenschaft und/oder Kunst ist.
Bernard Lowns Buch The Lost Art of Healing [1] stösst auf einen grossen Leserkreis von Ärztinnen und Ärzten. Zu recht: Die Technisierung der Medizin droht, den Menschen aus den Augen zu verlieren. Der Aufruf zur Berücksichtigung von Patientinnen und Patienten geht von einem Kardiologen aus, das scheint mir bedeutsam. Es sei daran erinnert, dass Lown den Defibrillator mit direktem Strom eingeführt hat, Herzrhythmusstörungen seinen Namen tragen und dass er sich gegen die lange Liegezeit für Herzinfarktpatienten durchgesetzt hat.
Ist die Kunst in der Heilkunde tatsächlich verloren gegangen? Schon Anfang des 20. Jahrhunderts haben hervorragende Ärzte auf die Vernachlässigung von ­Patientinnen und Patienten hingewiesen und die «Kunst» in deren Betreuung vermisst. William ­Osler (1849 bis 1919): Der gute Arzt behandelt die Krankheit, der grosse Arzt die Patientin oder den Pa­tienten mit der Krankheit. Harvey Cushing (1869 bis 1939): Der Arzt hat nicht nur die Krankheit zu beachten, sondern die Person mit ihrer Krankheit in ihrer Umwelt. Dass bereits im 19. Jahrhundert die Idee bestand, dass die Pa­tientinnen und Patienten keine Rolle mehr spielen sollten, geht aus Bemerkungen von Ernst Wilhelm von Brücke (1819 bis 1892) und Emil du Bois- Reymond (1818 bis 1896) hervor, die sich auf ihre Fahne geschrieben hatten: Wir wollen nicht eher ruhen, als bis der Mensch physikalisch-chemisch erklärt ist. Es darf ­gefragt werden, ob die Kunst in der Medizin in der Epoche von René Descartes an überhaupt eine Rolle gespielt hatte.

Der Kern der Medizin

Die Frage nach der Medizin als Kunst oder Wissenschaft hat George L. Engel, Professor für Innere Medizin und Psychoanalytiker (mein Lehrer in Rochester N.Y.), aufgeworfen in The Care of the Patient: Art or ­Science? [2]. Die Frage nach der Wissenschaft in der Medizin ist leichter zu beantworten als diejenige nach der Kunst. Wissenschaft in der Medizin umfasst das Beobachten, die Formulierung eines theoretischen Konzepts, erneutes Beobachten und das Prüfen, ob die Theorie den neuen Beobachtungen gerecht wird. Bedeutsam ist, dass die Auswahl der unendlich vielen ­Gegebenheiten, die beobachtet werden können, vom inneren Zustand der Beobachtenden abhängt.
Aber jetzt zur zweiten Frage: Was ist der Anteil der Kunst in der Medizin? Geht sie über das Handwerk­liche hinaus? Ist sie additiv zur wissenschaftlichen Medizin? Über­lappen sich beide? Sind sie zwei Aspekte des ­Gleichen?
Ein Krimi in Anlehnung an Agathe Christies Roman After the funeral soll uns der Antwort näherbringen [3]. Miss Marple und ihr Freund, der Bibliothekar, verkaufen in einer kleinen Stadt Abzeichen für einen guten Zweck. Sie kommen zum Park und Tor des reichen Mr. Enderby. Das Tor ist offen. Sie treten ein. Miss Marple ruft nach dem Schlossherrn. Dieser erscheint auf der Galerie, zu der eine breite Treppe hinaufführt. Er greift sich an die Brust, fällt zusammen und stürzt die Freitreppe hinunter vor die Füsse der beiden. Miss Marple beugt sich zu Enderby hinunter und bemerkt: «Er ist tot.» Bevor sie die Treppe erklimmt, hebt sie noch einen Klumpen Lehm vom Boden auf und lässt ihn in ihre Manteltasche gleiten. Sie begibt sich auf die Galerie. Aus einer halb offenen Tür erscheint eine garstige Katze, springt über ihre Schulter und verschwindet.
Miss Marple denkt, dass jemand die Katze eingeschleust haben muss im Wissen um Enderbys Katzenphobie, um ihn zu Tode zu erschrecken. Wieder unten bei ihrem Begleiter, spricht sie: «Mord!» Sie begeben sich aufs Polizeikommando. Der flotte Chef tritt ein, begrüsst die beiden freundlich und ruft aus: «Miss Marple, doch nicht schon wieder ein Mord? Enderby war herzkrank, das weiss das ganze Städtchen. Ich werde diesem Mordverdacht nicht nachgehen.» «Dann tue ich es», antwortet Miss Marple. Sie denkt an die vier geldgie­rigen Neffen Enderbys und begibt sich auf deren Pferdelandgut. Der Abdruck des Stiefels auf dem Lehmklumpen passt genau zur Stiefelsohle eines Neffen.
In dieser Geschichte scheint Miss Marple Kunst zu ­verkörpern, nämlich die Verknüpfung verschiedener Beobachtungen zu einem vereinigenden Konzept. Miss Marple hat das Nichtsichtbare in Sichtbares verwandelt, das ist nach Paul Klee ein Aspekt der Kunst.

Kunst in der medizinischen Praxis

Diese Sichtbarmachung des Nichtsichtbaren ist der Anteil der Kunst in der Medizin. Doch wie wird dieser in der Praxis umgesetzt? Hierzu einige Beispiele.
Ein Bündner Hausarzt empfiehlt einer alten Frau, wegen ihrer Bauchschmerzen ins Spital einzutreten. Die Frau: «Muss ich gehen? Verreisen?» Der Arzt erkennt das Unsichtbare, den Doppelsinn der Frage und antwortet: «Ich hoffe, Sie im Dorf wiederzusehen.» Die Frau schildert ihm noch die letzten Worte ihres Mannes, der wegen Krebs im Spital lag. Er habe gesagt, adieu, der Zug ist bereit, ich steige ein, ich verreise.
Eine Hausärztin [4] berichtet von einer längere Zeit betreuten Patientin, die sich nicht gesund fühlte. In einer der Konsultationen erzählt diese einen Traum. Ihr begegnet ein bildschöner Prinz. Die Hausärztin kommentiert: «Oder eine Prinzessin.» Einige Wochen später verkündet die Patientin, es gehe ihr sehr gut, sie habe sich in eine Frau verliebt, sei mit ihr zusammen­ge­zogen, die Beschwerden seien vergangen. Die Hausärztin hat im Sinn von Klee etwas Nichtsichtbares ins Sichtbare gehoben.
Damit wird deutlich, dass Kunst in der Medizin mit dem Unbewussten zu tun hat. Wie kommen Ärztinnen und Ärzte diesem nahe? Vermutlich durch Einfühlungsvermögen, Empathie. Das Verlorene in der Kunst des Heilens entspricht dem Verzichten auf Empathie, vielleicht sogar ihrem Verlernen während der Aus­bildung. Die Abnahme des Mitfühlens und die Zunahme des Sarkasmus im Laufe des Medizinstudiums sind beobachtet worden.
Engel wurde oft an andere Medical Schools eingeladen und begleitete die dortigen Ärzte auf ihren Visiten. Der Arzt trat an ein Bett und erklärte der Pa­tientin, sie dürfe nach Hause zurückkehren. Engel beobachtete die Armbewegung der Frau, während der Arzt dies sagte. Sie hob den rechten Unterarm und die Hand mit der Handfläche nach oben und liess sie dann in Pronation auf die Bett­decke sinken. Engel trat zur Frau, wiederholte ihre Geste und sprach: «Sie dürfen nach Hause gehen?!» Die Frau begann zu weinen und erklärte, ihr Mann betrüge sie und habe sie verlassen. Sie befürchte, einsam zu Hause, wieder mit dem Trinken zu beginnen. Daraufhin wurde die Sozialfürsorge eingesetzt [5].
Auf der Chefvisite trat ich in ein Viererzimmer ein. Im ersten Bett sass ein junger, kräftig aussehender Mann. Er fuhr mich an: Gehen Sie weiter, ich verzichte auf die Chefvisite. Er trug ein T-Shirt, das auf der Brust den Kopf eines Schäferhundes zeigte. Bevor ich weiterging, bemerkte ich: «Mir scheint, dieser Schäferhund muss eine Bedeutung für Sie haben.» Der Patient: «Das war mein einziger Freund, er ist gestorben!» Plötzlich lud er mich ein, Platz zu nehmen, und wir sprachen über Liebe und Verlust und trennten uns am Ende des Gesprächs ruhig und respektvoll. Empathie musste mich geführt haben, vom Verstand her müsste ich mich zurückgezogen haben, denn ich habe als Achtjähriger von einem Schäferhund eine tiefe Bisswunde erlitten.
Empathie mag in bestimmten Situationen die Intuition lenken. Sie ist jedoch nicht zu verwechseln mit Sympathie, die eine vollständige Identifikation mit dem andern bedeutet. Sie ist auch nicht mit Freundlichkeit und gutem Willen zu verwechseln oder durch sie zu ersetzen. Empathie zu empfinden muss begleitet sein von Wissen, etwa über die Entwicklung der Affekte und Denkweisen von der Säuglingszeit bis ins Erwach­senenalter sowie von den Eigenarten des Unbewussten und von einer Schulung in der Fähigkeit, ein Interview zu führen, so beispielsweise das semistrukturierte Interview [6].
Wir können die Fähigkeit zur Empathie als einen Aspekt der Kunst in der Medizin auffassen. Die Kunst besteht also im Sichtbarmachen unsichtbarer Zusammenhänge der Patientinnen und Patienten und in ihrer ­Integration in das biopsychosoziale Konzept der ­Medizin.
Rolf H. Adler
Leiserenweg 4
CH-3122 Kehrsatz
michele.rolf.adler[at]gmail.com
1 Lown B. The lost art of healing. New York: Random House; 1999.
2 Engel GL. The care of the patient: art or science? Johns Hopkins Med J. 1977;140(5):222–32.
3 Film Murder at the Gallop von Metro-Goldwyn-Mayer; 1963. Basierend auf Christie A. After the Funeral. London: Collins; 1953.
4 Adler RH, Albrecht J. Hausarzt und Traum. Swiss Med Forum. 2012;12:420–1.
5 Adler RH. Die Geste der Hilflosigkeit in der Arzt-Patient-Beziehung. Praxis. 2018;107:1127–8.
6 Adler RH, Hemmeler W. Anamnese und Körperuntersuchung. 3. Aufl. Stuttgart, Jena, New York: G. Fischer-Verlag; 1992.