Über das Dilemma der «Medizinischen Polizei»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2021/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20077
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(35):1152

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 31.08.2021

Medizinische Polizei? Nein, hier geht es nicht um medizinische Zwangseinweisungen oder Ordnungshüter, die im Kontext der Corona-Massnahmen aktiv wurden. Zumindest nicht direkt. System einer vollständigen medi­cinischen Polizey heisst eine sechsbändige Kompilation von Ideen über öffentliche Gesundheit von Johann Peter Frank (1745–1821). Der titelgebende Begriff meinte damals so etwas wie «Staatliches Gesundheitswesen». Frank wird heute in eher verkürzender Sicht als Begründer der Public Health gehandelt. Die ist gerade in aller Munde, umso mehr zu seinem 200. Todestag diesen März. Im Blick auf Frank – früher wie heute – spiegelt sich eine Gretchenfrage der Public Health: Wie hältst Du es mit der «Polizei»?
Gesundheit als Aufgabe des Staats erlebte in Franks Ära, dem aufgeklärten Absolutismus, einen Boom, weil man viele und gesunde Untertanen als Grundbedingung eines starken Staats ansah und aufklärerische Ärzte alles dem Gesundheitsgedanken unterordneten. Frank war Sozialmediziner, für den das Volkselend die Mutter der Krankheiten war. Sein «System» forderte gesunde Lebensbedingungen, gute Ausbildung der Ärzte etc. Die andere Seite seiner «Sozialhygiene» waren Kontrolle und Intervention. Frank baute eine Drohkulisse des gesundheitlichen Niedergangs auf. Für seine Idee von Volks­gesundheit wollte er das Verhalten der Untertanen bis in intimste Details geregelt, verordnet und nötigenfalls verboten wissen. Ein paar Beispiele: Er wollte bei Fami­lienfeiern die in seinen Augen ungesunde «Völlerei» bestrafen lassen und Beobachter zur Denunziation verpflichten. Er wollte bei «Volksergözlichkeiten» sogar den Walzer verbieten. Und vor allem wollte er unzähligen Menschen die Ehe «auf immer untersagen»: bei vielen Krankheiten, von der «Auszehrung» über Steinleiden bis zum «Zipperlein». Selbst Alten oder «übelgestalteten» Menschen. Frank dachte auch über Koitusverbote und Zwangsscheidungen nach. Alles in einem unentwirr­baren Knäuel aus bevölkerungspolitischer «Proto-Eugenik» und bürgerlicher Moral. Dazu kam aufklärerische Selbstüberhebung: die feste Überzeugung, die einzige medizinische Wahrheit und die einzig akzeptable Moral zu besitzen.
Frank hatte mit seiner «Medicinischen Polizey» einerseits grossen Erfolg, andererseits bezeichneten bereits Zeitgenossen seine Ideen als den «Despotismus» eines «Diktators». Nationalsozialistische Medizinhistoriker bejubelten ihn dagegen als «Gesundheitsführer» oder nannten ihn lobend «Rassenpolitiker».
Kein Wunder, beschrieb die angloamerikanische Medizingeschichte nach dem Krieg Franks Gedankenwelt gerne als «aufgeklärten Despotismus». Sie sahen früher das grundsätzliche Dilemma der «öffentlichen Gesundheit»: Präventionspolitik wird schnell regulatorisch, restriktiv und interventionistisch. Die deutschsprachige Medizingeschichte brauchte da länger. Für die Histo­rikerin Ute Frevert repräsentierte Frank die «totalitäre Utopie einer überall wirksamen staatlichen Bevormundung».Interventionismus funktioniert am besten vor Bedrohungs- und Niedergangszenarien. Und Präventionspolitik ist nicht davor gefeit, nachträglich als problematisch erscheinende Massnahmen durchzusetzen.
Vor diesem Hintergrund spiegeln aktuelle Beiträge zu Franks 200. Todestag unterschiedliche Sichtweisen auf Prävention. Ein Kollege des Ärzteblatts Baden-Württemberg schrieb etwa im Juni über den «Pionier der präventiven Medizin»: «Die Erhaltung der Gesundheit als Garant für ein funktionierendes Staatsgebilde war für ihn wichtiger als die Freiheitsrechte und Freiheitswünsche des Einzelnen. Kein Wunder, dass er daher später im 20. Jahrhundert auch von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde.»
Im März dieses Jahres unterhielten sich dagegen in der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf zwei Fachleute über die Aktualität Franks vor dem Hintergrund der derzeitigen Pandemie. Dabei ging es um die Bedeutung von Franks «strikten Hygienevorschriften», um die Wichtigkeit des «starken Staats» und die Notwendigkeit von «klaren Direktiven». Worum es nicht ging, war das Dilemma von Franks Ideen und der Prävention schlechthin.
Diese Doppelgesichtigkeit gerät gerade in Krisen noch schneller aus dem Blick, wenn der Gedanke daran besonders nützlich wäre. Die Medizingeschichte kann mit Beispielen wie Franks «Medicinischer Polizey» die Sensibilität wachhalten, welche Nebenwirkungen präventive Interventionen haben können.
Einzelnachweise und Literatur beim Verfasser.
eberhard.wolff[at]emh.ch