Das Ereignis und das Erlebnis sind nie dasselbe

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2021/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20119
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(37):1202-1203

Publiziert am 15.09.2021

Das Ereignis und das Erlebnis sind nie dasselbe

Die Aussagen von Dietmar Thumm, während der Pandemie sei das Gesundheitswesen der Schweiz nie in Gefahr gewesen, aus dem ­Ruder zu laufen, und die Intensivpflegesta­tionen (IPS) seien nie überlastet gewesen, benötigen einer gewissen Differenzierung.
Das Gesundheitswesen der Schweiz ist tatsächlich sehr robust. Wir haben das Privileg, auf allen Ebenen auf topausgebildete Fachleute zählen zu können. Auch an erstklassiger Infrastruktur, an Material und Medikamenten fehlt es nicht. Alle diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass wir bisher mit einem blauen Auge durch die Pandemie gekommen sind. Trotzdem dürfen wir nicht ignorieren, dass gerade das Pflegepersonal in vielen Spitälern aus unterschiedlichen Gründen an Belastungsgrenzen gestossen ist. Diese Spitäler kämpfen heute mit entsprechenden Kolla­teralschäden (Absentismus, Burnout). Dies bringt uns zu den IPS, die gemäss Herrn Thumm nie überlastet waren. Dabei ist zu beachten, dass eine IPS ab einer Belegung von 80% als überlastet bezeichnet werden muss. Natürlich kann die Kapazität jeder IPS jederzeit erhöht werden. Man fügt einfach ein paar Betten hinzu. Dies ist jedoch ausserordentlich personalaufwendig. Zur Erinnerung: Um die Betreuung von zehn zusätzlichen IPS-Betten rund um die Uhr zu garantieren, werden 40 bis 50 Pflegefachpersonen und 5 bis 10 Ärzte benötigt. Woher soll man dieses Personal nehmen?
Die Spitäler haben drei Möglichkeiten, um auf einen Mehrbedarf an IPS-Plätzen zu reagieren. Erstens, man überlässt die IPS ihrem Schicksal. Die sollen sich einfach ein bisschen anstrengen. Der «Normalbetrieb» des Spitals soll nicht gestört werden. Dies würde zu Wartelisten führen und es steht auch finanziell viel auf dem Spiel. In diesen Spitälern wurden vor allem die Pflegenden der Intensivstationen sehr stark beansprucht. Zweitens, man verstärkt das IPS-Team mit Ärzten und Pflegepersonal der Anästhesie, da diese sich auch um intubierte COVID-Patienten kümmern können. Sie fehlen dann aber in den Opera­tionssälen und als Konsequenz muss das ­Operationsprogramm zurückgefahren werden. Drittens, man mobilisiert Personal von den Abteilungen. Mit dem Transfer von 50 Pflegenden müssten jedoch 50 Betten geschlossen werden. Zudem besitzt dieses Personal oft nur limitierte IPS-Kenntnisse, muss also vom spezialisierten IPS-Personal angeleitet und begleitet werden, was zusätzlich an den Kräften zehrt. Man kann es also drehen, wie man will; es sind schlussendlich diese massiven Personalverschiebungen und deren unmittelbare Konsequenzen auf den Betrieb anderer Abteilungen und Aktivitäten, welche die Spitäler als Ganzes an die Grenzen des Mach­baren führen. Spezialisiertes IPS-Personal fällt nicht vom Himmel und kann in der momentanen Krisenzeit auch nicht einfach rekru­tiert werden, schliesslich sind alle Spitäler europaweit vom selben Phänomen betroffen. Diese vitalen Zusammenhänge wurden bisher vielleicht zu wenig klar kommuniziert.
Der Nutzen der Impfung zeigt sich seit Beginn der vierten Welle auf beinahe groteske Art: die grosse Mehrzahl der Patienten, die eine Hospitalisierung wegen akuter COVID-Krankheit benötigen, ist nicht geimpft. Es geht um die Volksgesundheit und da bleibt kein Platz für Querdenker. Wir leben in einer Gesellschaft von «enfants gâtés». Nur eine massive Durchimpfung der Gesellschaft wird es unseren Spitälern erlauben, wieder normal zu funktionieren. Die Ärzte sollten Klartext reden, mit gutem Beispiel vorangehen, sich impfen lassen und dies bei jeder Gelegenheit lauthals kundtun.