Was bedeutet ein Globalbudget für die Generationensolidarität?

FMH
Ausgabe
2021/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20128
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(38):1220-1223

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin der Präsidentin; b Dr. med., Präsidentin der FMH

Publiziert am 22.09.2021

Im Rahmen der Corona-Krise wurde vielfach diskutiert, wie viel Gesundheit kosten darf und wie stark die jüngere Generation für die ältere Generation in die Pflicht genommen werden darf. In der Grundversicherung hat die Generationensolida­rität eine lange Tradition. Die in der Corona-Politik vielbetonte Priorität gesundheitlicher Bedürfnisse soll zukünftig jedoch Kostendeckeln weichen, die auch die Generationengerechtigkeit infrage stellen.
In der Grundversicherung hat die Generationensolidarität eine lange Tradition.
Im Rahmen der Covid-19-Pandemie drehten sich private, politische und mediale Diskussionen oftmals um die fundamentale Frage, wie viel die Gesundheit kosten darf. Die getroffenen Massnahmen warfen Fragen der Verhältnismässigkeit auf: Wie viele Einschränkungen und wie hohe Kosten sind für wie viel gerettete ­Lebenszeit gerechtfertigt? Der Bundesrat betonte die Notwendigkeit, «eine gute Balance zu finden zwischen gesundheitlichen Massnahmen und wirtschaftlichen Auswirkungen» [1] bzw. eine «Güterabwägung zwischen Gesundheit, Wirtschaft und öffentlichem Leben» vorzunehmen [2]. Darüber, wie dieser «politische Trade-off» [3] aussehen sollte, gingen die Meinungen aus­einander. Während Vertreter der SVP betonten, dass Gesundheit und Gesundheitswesen auch mit dem Erhalt einer laufenden Wirtschaft und Arbeitsplätzen geschützt werden müssten [4], betonten SP-Vertreter, die Gesundheit würde «durch grosszügigere finanzielle Hilfe» geschützt. «Problemlos» könne sich die Schweiz «viele weitere Milliarden leisten», zumal sich jeder ­investierte Franken «mehrfach bei den gesundheit­lichen und sozialen Folgekosten» auszahle. Dank Negativzinsen werde man «sogar bezahlt fürs Schuldenaufnehmen» [5].

Die Frage der Generationensolidarität: Wer bezahlt wie viel für wen?

Die öffentlichen Abwägungen zwischen Gesundheitsschutz einerseits und seinen Kosten anderseits gewannen auch durch die unterschiedliche Betroffenheit verschiedener Altersgruppen an Brisanz. Es ging nicht nur darum, wie viel Gesundheit kosten darf, sondern auch darum, wie viel wessen Gesundheit wen kosten darf. Vielfach wurde thematisiert, dass in erster Linie ältere Menschen geschützt würden, während gleichzeitig junge Menschen um Entwicklungschancen gebracht und mit Schulden beladen würden. Die Generationensolidarität wurde hochgehalten, und der Bundesrat antwortete auf die immer wieder gestellte Frage ­«Warum tut ihr das alles für Leute, die so oder so bald sterben werden?» mit der «Präambel der Bundes­verfassung: ‘Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen’» [6].
Befragungen zeigten, dass die Solidarität nicht nur in der Verfassung, sondern auch in der Bevölkerung fest verankert ist. So betrachteten 16- bis 25-Jährige die ­Einschränkungen persönlicher und wirtschaftlicher Freiheiten als ausbalanciert, obwohl sie selbst kaum Gesundheitsschäden zu befürchten hatten. Zwei Drittel von ihnen fanden, dass die Solidarität zwischen den Generationen gestärkt wurde, und lehnten es ab, dass Rentnerinnen und Rentner den Schaden durch zusätzliche Abgaben mittragen müssen [7]. Ältere Menschen gaben mehrheitlich an, die Corona-Krise habe ihr Bild von jüngeren Generationen und auch die Beziehung zwischen jüngeren und älteren Menschen positiv beeinflusst [8].

Die Grundversicherung lebt die Solidarität zwischen Jung und Alt

Dass die Generationensolidarität in der Bevölkerung ein fester Wert ist, lässt sich auch am Prinzip der obligatorischen Grundversicherung ablesen. Ein zentrales Anliegen des heutigen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) war die «Verstärkung der Solidarität» ([9] S. 95) – auch der «zwischen den jüngeren und den älteren Generationen» ([9] S. 119). Der Blick auf Abbildung 1 zeigt, dass diese Solidarität gelebte Praxis ist. Durch die mit zunehmendem Alter höhere Krankheitslast beziehen die Altersgruppen ab 66 Jahren (~18% der Versicherten) durchschnittlich mehr Nettoleistungen, als sie an Prämien einzahlen. Diese Differenz wird in den älteren Gruppen immer grösser, gleichzeitig sinkt mit zunehmendem Alter aber auch die Anzahl der Versicherten deutlich.
Abbildung 1: Mittlere Prämie und Nettoleistung pro versicherte Person nach Altersgruppe (Anteil der Altersgruppe an den OKP-Versicherten in Prozent) [10].
Dass hohe Altersgruppen als Nettobezüger ein Mehr­faches ihrer Prämienzahlungen als Leistungen beziehen, während jüngere Altersgruppen teilweise doppelt so viele Prämien bezahlen, wie sie an Leistungen er­halten, wurde bislang im Grundsatz nicht kritisiert, sondern als Sinn einer Versicherung nach dem Solidaritätsprinzip verstanden. Die Generationengerechtigkeit ist auch nicht tangiert, sofern die heutigen Nettozahlenden im Alter die gleichen Chancen auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse haben. Die Sorge gilt darum auch vorrangig der Zukunft: Ist diese Um­verteilung von Jung zu Alt langfristig trotz der Entwicklung von Demographie und Gesundheitskosten tragbar?

Höchste Kosten, aber niedrigste ­prozentuale ­Steigerung bei den Ältesten

Um das Kostenwachstum in der OKP zu beschränken, plant der Bundesrat aktuell auf verschiedenen Ebenen die Einführung von Globalbudgets. Sowohl der geplante Artikel 47c KVG des ersten Kostendämpfungspakets als auch die sogenannten Zielvorgaben fordern, dass eine vorab als «gerechtfertigt» definierte Kostensteigerung festgelegt wird. In einem «fiktiven Zahlenbeispiel» des Bundesrats, das dennoch eine Idee von der Grössenordnung gibt, beträgt die für ein Jahr als akzeptabel definierte Kostensteigerung 2,7% [11]. Ein solches Kostenziel würde dann auf die Kantone und vordefinierte Kostenblöcke (zum Beispiel stationär und ambulant) sowie Leistungserbringerbereiche ­aufgeteilt und müsste von den Leistungserbringern eingehalten werden. Sofern sie finanzielle Sanktionen vermeiden möchten, müssten sie also im Zweifelsfall Leistungen vorenthalten.
Wie genau ein solches Ziel berechnet werden soll, wird nicht angegeben. Der Bundesrat machte jedoch deutlich, dass die Demographie eines Kantons bei der ­Zuteilung kantonaler Kostenziele berücksichtigt werden sollte. Auch für den Artikel 47c verdeutlicht er, dass die Kalkulation der «gerechtfertigten» Kosten unter vielen anderen Faktoren auch die demographische Entwicklung berücksichtigen müsse. Doch was heisst das genau?
Abbildung 2 zeigt für den Zeitraum zwischen 1997 und 2019 die Zunahme der OKP-Nettokosten pro Versicherten und Jahr unterteilt nach verschiedenen Altersgruppen. Die prozentual geringste Kostensteigerung wies in diesem Zeitraum mit jahresdurchschnittlich 1,6% die Altersgruppe der 96- bis 100-Jährigen auf. Die prozentual höchste Kostensteigerung wiesen hingegen mit 4,5% die 16- bis 18-Jährigen auf, dicht gefolgt von den 11- bis 15-Jährigen mit 4,4%. Während die Hochbetagten das prozentuale Kostenziel aus dem «fiktiven Zahlenbeispiel» des Bundesrats im langfristigen Jahresdurchschnitt also problemlos einhalten, ist dies bei Kindern und Jugendlichen nicht der Fall. Trotzdem beträgt, wie an der Graphik gut zu sehen ist, der absolute Kostenanstieg der Betagten ein Mehrfaches von dem der Kinder. Während die OKP-Nettokosten der 16- bis 18-Jährigen um 945 Franken (von 590 auf 1536 CHF) stiegen, wuchsen die der 96- bis 100-Jährigen um 5728 Franken (von 14 761 auf 20 490 CHF) an.
Abbildung 2: OKP-Nettoleistungen pro Versicherten pro Jahr in Franken nach Altersgruppe (Anteil der Altersgruppe an den OKP-Versicherten in Prozent) [12].
Wie wäre diese Entwicklung im Rahmen von Kostenzielen zu handhaben? Müsste man die prozentual ­höhere Kostensteigerung bei Kindern und Jugendlichen begrenzen – während der absolut deutlich grös­sere Kostenzuwachs bei Seniorinnen und Senioren bestehen bleiben dürfte? Würde man verschiedenen Altersgruppen verschiedene Kostensteigerungen zugestehen? Dürften die Kosten der Patientinnen und ­Patienten der Pädiaterinnen und Pädiater stärker wachsen als die der Patientinnen und Patienten der Geriaterinnen und Geriater? Oder umgekehrt? Und wäre das gerecht?

Endet die Solidarität mit dem Kosten­deckel?

Solche Fragen sollten nicht gestellt werden müssen. Gesundheitsleistungen müssen nicht allen im gleichen Umfang, sondern allen nach ihrem Bedarf zur Verfügung stehen. Die Frage nach Gerechtigkeit im Sinne einer Gleichbehandlung kommt erst auf, wenn der Bedarf nicht mehr für alle gedeckt werden kann. Dies wurde im Pandemie-Geschehen erschreckend deutlich, als angesichts der begrenzten Anzahl an Intensivbetten über Triagekriterien und hier auch die Rolle des Alters diskutiert wurde. Auch mit der Einführung von Globalbudgets – ergo Kostendeckeln – werden Ressourcen begrenzt, so dass Fragen der Verteilungs­gerechtigkeit eine neue Bedeutung bekämen und die Solidarität im Allgemeinen, aber auch die Generationensolidarität belasten könnten.
Es stünde im Widerspruch zu vielen Aussagen und Forderungen der Politik während der Corona-Krise, würde man der Gesundheitsversorgung ein Zwangskorsett von Budgets auferlegen. Statt wie heute für alle Versicherten WZW-konforme Gesundheitsleistungen gemäss individuellem Bedarf sicherzustellen, würde dann tatsächlich die «Kostenfrage über die Gesundheit der Menschen gestellt» [13]. Die heute praktisch gelebte ­Solidarität würde durch Verteilkonflikte überlagert, die sich auch entlang der Generationengrenzen bilden könnten. Trotz aller Herausforderungen ist die Grundversicherung der Schweiz ein schuldenfreies System, das sogar über grosse Reserven verfügt. Es gibt keinen Grund, in Hinblick auf die Corona-Pandemie die Gesundheit vor die Kosten zu stellen – und in der Grundversicherung anders­herum zu verfahren.
Nora.Wille[at]fmh.ch
1 Von Burg D, Schmid A. Alain Berset im Interview. «Tun wir nichts, drohen bis zu 15’000 Fälle täglich». Tages-Anzeiger [Internet]. 17. Janu­ar 2021. www.tagesanzeiger.ch/tun-wir-nichts-drohen-bis-zu-15000-faelle-taeglich-795430085022
2 «Grosser Teil sind über 80-Jährige»: Bundesrat Maurer verteidigt Strategie in der zweiten Welle – trotz vieler Toter. Aargauer Zeitung [Internet]. 21. November 2020. www.aargauerzeitung.ch/schweiz/grosser-teil-sind-uber-80-jahrige-bundesrat-maurer-verteidigt-strategie-in-der-zweiten-welle-trotz-vieler-toter-ld.2066642
 3 Berset zu Berns erfolgreicher Strategie in der Coronavirus-Pandemie: Darum hat es die Schweiz anders gemacht als Deutschland. Blick [Internet]. 13. Juni 2021. www.blick.ch/ausland/berset-­zu-berns-erfolgreicher-strategie-in-der-coronavirus-pandemie-­darum-hat-es-die-schweiz-ganz-anders-gemacht-als-deutschland-id16595852.html
 4 Rösti A. Delegiertenversammlung, Samstag, 22. August 2020: Nur die SVP steht für Freiheit und Sicherheit [Internet]. www.svp.ch/news/artikel/referate/nur-die-svp-steht-fuer-freiheit-und-sicherheit/
 5 Pult J. Corona-Finanzpolitik: Ueli Maurer irrt [Internet]. 9. Dezember 2020. www.sp-ps.ch/de/publikationen/espress/corona-finanzpolitik-ueli-maurer-irrt
 6 Häfliger M, Loser P. Interview mit Bundesrat Alain Berset: «Nun können wir ein bisschen cooler werden» [Internet]. 10. Mai 2020. www.tagesanzeiger.ch/ein-bisschen-cooler-werden-865547480119
 7 gfs.bern. CS Jugendbarometer 2020: Die politisierte Jugend bekennt Farbe. URL: www.gfsbern.ch/wp-content/uploads/2020/09/203116_cs_jugendbarometer_2020_gelayoutet.pdf
 8 gfs-zürich. Markt- & Sozialforschung, Mai 2020, Quantitative Befragung im Auftrag von Pro Senectute Schweiz: Repräsentative Bevölkerungsbefragung 50plus zum Generationendialog vor dem Hintergrund der Corona-Krise [Internet]. Mai 2020. gfs-zh.ch/wp-content/uploads/2020/06/Bericht_Corona_Einfluss_auf_Generationendialog.pdf
 9 Botschaft über die Revision der Krankenversicherung vom 6. Novem­ber 1991 (91.071). Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften. Bundesblatt 1992, Band 1, Heft 3, 28.1.1992, S. 93-292; Ref.-Nr. 10 052 098 [Internet]. www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1992/1_93_77_65/de
10 Archiv der Statistik der OKP, aktuellste Daten von 2019, Tabellen T 3.07 Prämien und mittlere Prämien je versicherte Person nach Altersklasse und Geschlecht sowie T 2.09 Nettoleistungen nach Altersklasse und Geschlecht [Internet]. www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/statistiken-zur-krankenver­sicherung/statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung/Portal-statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung.exturl.html/aHR0cHM6Ly9zdGF0b2twLmJhZ2FwcHMuY2gvcG9ydGFsX2RlLn/BocD9wPWRvd25sb2Fkc18xJmxhbmc9ZGU=.html; Prozentuale Verteilung der Altersgruppen aus T 7.15 Durchschnittlicher Versichertenbestand nach Altersklasse und Geschlecht 2019; Daten­stand 4.6.2020, Formular EF 3.11; Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2019, Bundesamt für Gesundheit.
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