Kopflastiges Zuschauen anstelle praktischer Ausbildung?

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2021/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20142
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(37):1203

Publiziert am 15.09.2021

Kopflastiges Zuschauen anstelle praktischer Ausbildung?

In diesem ausgezeichneten Artikel zeigt die Autorin anhand ihrer Unterassistentenzeit exemplarisch nach, wie intellektuell abgedriftet das Medizinstudium zu einer Misere geworden ist, die sich auch in die weitere Aus­bildung bis in die Fortbildung weiterzieht. Natürlich war es uns (Staatsexamen 1977) schon bekannt, dass die eigentliche Lehre zum Arzt erst nach dem Staatsexamen beginnt. Aber die Unterassistenzzeit war damals nicht blosses Zuschauen (oder wie die Autorin es schärfer formuliert «blödes Glotzen»). Im Gegenteil, wir kamen uns eher vor wie schlecht bezahlte Mitarbeiter, die fest im Arbeitsablauf der Spitäler eingeplant waren. So hatten wir Neueintritte zu untersuchen, mit mehr oder weniger Hilfe der ohnehin überlasteten Assistenten, und diese am Abend dem Oberarzt vorzustellen. Teilweise betreuten wir auch nachher einzelne Spitalzimmer zur Entlastung. Auf der Chirurgie waren wir fest in den Operationen als 3. Hand eingeplant neben der Hilfe im Notfall und der Aufnahme von neuen stationären Patienten. Auch habe ich es erlebt, dass ein später bekannter Chirurg die ungeliebte Stationsarbeit voll den Uhus überliess, so dass er auf der Chefvisite keine Ahnung vom Zustand seiner Patienten hatte. Auch war die Uhu-Zeit eine Art Prüfungsvorlauf auf die damals raren Assistentenstellen. Ein Oberarzt kam sogar auf die Idee, seine Uhus mit Noten zu bewerten, während sein Kollege fand, ein Uhu habe das Recht, schlecht zu sein, ohne dass es seiner Karriere schade.
Nun, die Zeiten scheinen sich geändert zu ­haben. Sogar am Staatsexamen bekommt man es mit Schauspielern anstatt Patienten zu tun. Fake Patients als Symbol einer merkwürdigen dekadenten Entwicklung. Dass einer meiner Patienten mit Herzinsuffizienz >12 Stunden warten musste, bis sein Arzt die nötigen Hierarchiestufen angefragt hatte, um ihm ein Diureti­kum zu geben, zeigt die Fortsetzung dieser Entwicklung des Abschiebens der Verantwortung nach oben. Dafür dürfen wir dann während unserem ganzen Berufsleben Fortbildungen über alle möglichen Krankheiten besuchen, die wir aber im Praxisalltag gar nicht mehr wagen, in Eigenregie ohne spezialärztliche Hilfe zu betreuen. Der Anfang dieser fatalen Entwicklung scheint offensichtlich in der Uhu-Zeit zu liegen, wo man die Verantwortung scheut, die Studierenden in die ersten Schritte ihrer praktischen Tätigkeit zu begleiten.