Wirkliches Wissen heisst, die Gründe zu kennen

FMH
Ausgabe
2021/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20203
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(40):1287

Affiliations
Dr. med., Vizepräsident der FMH, Departementsverantwortlicher DDQ

Publiziert am 05.10.2021

Vor wenigen Wochen sorgte ein Bericht [1] der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) für Aufsehen. Ziel des Berichts war es, zu prüfen, ob die von der Krankenkasse vergüteten medizinischen Leistungen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind (WZW-Kriterien). Anhand von drei chirurgischen Leistungen (elektive Angioplastie/Stenting, Prostataentfernung sowie Kyphoplastie/Vertebroplastie bei Wirbelkompressionen) sollte untersucht werden, ob es finanzielle Anreize gibt, Leistungen über das notwendige Mass hinaus zu erbringen, und ob diese Anreize gut kontrolliert werden.
Die Lektüre des Berichts bringt leider kaum neue Erkenntnisse. Die von der EFK behandelten Anreize werden bereits seit Längerem diskutiert und viele der ausgesprochenen Empfehlungen sind bereits umgesetzt oder befinden sich in Umsetzung. Beispielsweise empfiehlt die EFK dem BAG, medizinische Leistungen mit einem hohen Risiko der Nichteinhaltung der WZW-Kriterien systematisch zu identifizieren. Die hierfür benötigten, wissenschaftlich fundierten Health Technology Assessments (HTAs) werden bereits heute als gute Möglichkeit anerkannt, Kosten-Nutzen-Abwägungen vorzunehmen und letztlich die Indikations- und Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten in der Schweiz zu verbessern.
Auch die Empfehlung, Zweitmeinungen zu stärken, ist nichts Neues. Die Zweitmeinung ist ein wichtiges In­strument, um Patientinnen und Patienten bei schwierigen Entscheidungen zu unterstützen, und ist gemäss der FMH-Standesordnung (Art. 16) seit Langem ein Pa­tientenrecht. Die FMH unterstützt Zweitmeinungen, sofern die Patientin oder der Patient dies wünscht. Auch hier muss jedoch die Versorgungsqualität und nicht die Kostendämpfung das Ziel sein.
Interessant ist auch die Empfehlung der EFK, unsach­gemässen ökonomischen Anreizsystemen entgegenzuwirken. Besonders «die grosszügige Kostendeckung von Zusatzversicherungen» nennt die EFK als «ein gros­ses Risiko» für unnötige Eingriffe – obwohl ihre eigenen Analysen dies gar nicht bestätigen. Aus Sicht der FMH sind vor allem aktuelle und sachgerechte Tarifstrukturen zentral, wie sie mit SwissDRG und TARPSY im stationären Bereich implementiert sind. Im ambulanten Bereich trägt hingegen der seit 2004 praktisch unveränderte und damit völlig veraltete TARMED massgeblich dazu bei, dass unsachgemässe ökonomische Anreize bestehen. Die von den Tarifpartnern über Jahre hinweg erarbeitete, neue sachgerechte und betriebswirtschaftliche Tarifstruktur TARDOC wird leider derzeit von der Genehmigungsbehörde blockiert, was zu einer Verlängerung dieses Zustandes führt.
Dass Rahmenbedingungen – wie beispielsweise ein veralteter, nicht sachgerechter Tarif – im Bericht keine Erwähnung finden, zeigt ein weiteres grundsätzliches Problem des EFK-Berichts auf: Er berücksichtigt die Komplexität der Gesundheitsversorgung und die vielfältigen Einflussfaktoren auf die Menge der Eingriffe in der Schweiz nur unzureichend. Neben Faktoren wie der Ärztedichte, dem hohen Versorgungsstandard und der hohen Lebenserwartung spielen auch Einflüsse wie der Kostendruck durch das neue Spitalversorgungsgesetz, die Krankenkassen und die Politik eine Rolle. Vor dem Hintergrund dieses multifaktoriellen Geschehens wies die Schweizerische Gesellschaft für Urologie in ihrer Stellungnahme zum EFK-Bericht auf einen zentralen Punkt hin: Es bedarf einer Diskussion aller involvierten Stakeholder, um dieser Komplexität gerecht zu werden. «Die Stigmatisierung und gegen­seitige Schuldzuweisung muss vermieden werden», da «ansonsten längerfristig Versorgungsengpässe und Qualitätseinbussen drohen». Und die Verfügbarkeit und Qualität der medizinischen Versorgung sind schliesslich nicht nur für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für alle Akteure im Gesundheits­wesen der zentrale Fokus mit grosser Bedeutung für unsere Gesellschaft.
1 Bundesamt für Gesundheit (BAG). Evaluation der Massnahmen zur Förderung oder Begrenzung der Anzahl chirurgischer Eingriffe [Internet]. 23. September 2021. www.efk.admin.ch/de/publikationen/bildung-soziales/gesundheit.html