Kein Zeitgewinn durch künstliche Intelligenz (mit Replik)

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2021/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20327
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(46):1527-1528

Publiziert am 17.11.2021

Kein Zeitgewinn durch künstliche Intelligenz (mit Replik)

In seinem Editorial gibt Herr Kollege Zimmer seiner Hoffnung Ausdruck, dass wir alle von künstlicher Intelligenz (KI) profitieren könnten, indem uns – bei deren erfolgreicher Integration für administrative und medizinische Routineaufgaben in den klinischen Alltag – mehr Zeit für anspruchsvolle Aufgaben und für den persönlichen Kontakt mit den Patienten zur Verfügung stünde. Also das, was wir uns alle wünschen: Mehr Genugtuung bei der Arbeit und mehr Investition in Beziehungen. Es wäre nur allzu schön, wenn dies gelänge, und ich würde den Optimismus des Departementsvorstehers «Digitalisierung/eHealth» nur zu gerne teilen.
Leider sieht die bisherige Erfahrung anders aus. Haben wir heute mehr Zeit für unsere Patientinnen und Patienten als noch unsere Vorgänger, die ihre MPA täglich zentnerweise Papier-KGs herumtragen liessen? Können wir beim Rezeptschreiben wirklich Zeit (und nicht nur Papier) sparen? Haben wir bei der Verwaltung von Betäubungsmitteln tatsächlich mehr Zeit, z.B. für deren Indikations­stellung – eine oft recht anspruchsvolle Sache? Ich wage zu behaupten: Nein. Und ­dasselbe bestätigen mir die Pflegenden in den drei Heimen, in welchen ich Patientinnen und Patienten betreue: Sie sind vielmehr zu Pflegeplanenden geworden, und damit weiter von meinen Patientinnen und Patienten weg – statt näher zu ihnen – hingerückt. Zeit haben sie noch weniger für ihre Kernaufgabe (wobei wohl nun der Umgang mit dem PC zu einer neuen Kernaufgabe geworden ist, haben doch nur «Diplomierte» die entsprechenden Passwörter).
Damit man mich richtig versteht: Ich bin für den Einsatz von KI. Nämlich dort, wo sie die Diagnosegenauigkeit oder die Behandlungseffizienz verbessert. Aber vor dem Argument des Zeitgewinns zugunsten unserer Patientinnen und Patienten möchte ich warnen. Ein Grossteil, wenn nicht der gesamte Zeitgewinn, wird rasch durch irgendwelche zusätz­lichen Begehrlichkeiten weiterer «Player» im Gesundheitssystem, nicht zuletzt von Behördenseite, aufgefressen oder dann durch tarifarische Kürzungen kompensiert werden. Wenn die Daten schon digital verfügbar sind, sollte man sie doch möglichst nutzen, für wen auch immer (Beispiel: Datenlieferung für die Statistik der Arztpraxen und ambulanten Zentren, MAS). Und wenn der Arzt / die Ärztin schon dank KI mehr Zeit hat, sollte sie pro Zeiteinheit auch mehr klinische Aufgaben ­bewältigen können. So werden sich die Abhängigkeiten in unserem «freien» Beruf weiterhin akzentuieren. Unsere Arbeitszufriedenheit wird sich kaum verbessern – jedenfalls nicht über einen Zeitgewinn. Damit müssen wir zumindest rechnen. Leider.

Replik zu «Kein Zeitgewinn durch künstliche Intelligenz»

Kollege Christoph Hollenstein stellt zu Recht fest, dass die Ärzteschaft zunehmend mit überbordenden administrativen Aufgaben konfrontiert wird. Auch hat die künstliche Intelligenz bislang kaum – oder vielleicht merken wir es gar nicht? – Einzug in die Arztpraxis gehalten. Um das Potenzial dieser Technik zu verstehen, muss sich die Ärzteschaft mit dieser auseinandersetzen. Genau aus diesem Grund beleuchtet das Departement Digitalisierung/eHealth dieses Thema zugunsten unserer Mitglieder. Dies ist kein Selbstzweck, denn leider wird die Regulierung der künst­lichen Intelligenz mit Folgen für die Ärzteschaft andernorts in der Politik entschieden. Im europäischen Parlament finden im November eine Reihe an Hearings statt, deren Resultate mittel- bis langfristig unser Verständnis vom ärztlichen Berufsbild im digitalen Zeitalter beeinflussen könnten. Die vom Kollegen Hollenstein beschriebene Möglichkeit der besseren Bewältigung von klinischen Aufgaben können nur dann sinnvoll und nutzbringend eingesetzt werden, wenn die Ärzteschaft den Verwendungszweck, die Benutzerfreundlichkeit sowie die Art und Weise der Zusammenarbeit mit der künstlichen Intelligenz zum Wohle ihrer Patientinnen und Patienten mitgestalten kann. Der ­daraus resultierende Zeitgewinn ist eine mögliche Folge, wenn wir nur an die sich stetig verbesserten Spracherkennungssysteme denken. Hierin hat die künstliche Intelligenz durchaus das Potenzial, uns bei Arbeiten, die nicht zu unseren Kernaufgaben gehören, zu entlasten. Zugegebenermassen – und da bin ich mit Herrn Kollege Hollenstein einer Meinung – darf der Einsatz der künstlichen Intelligenz nicht die alleinige Antwort auf die zunehmende Bürokratisierung der Medizin und den wachsenden ökonomischen Druck auf die Ärzteschaft sein!