«Alle Fragen zur Impfung sind legitim und ernst zu nehmen»

FMH
Ausgabe
2021/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2021.20335
Schweiz Ärzteztg. 2021;102(47):1560-1563

Affiliations
a Leiterin Abteilung Kommunikation der FMH; b Kommunikationsspezialistin der FMH

Publiziert am 23.11.2021

Noch längst ist in der Schweiz der aufgrund von Modellrechnungen angestrebte Impf-Richtwert von 80% der 18- bis 64-Jährigen und 93% der über 65-Jährigen nicht erreicht. Anlässlich der nationalen Impfwoche fragen wir Virginie Masserey als Leiterin der Sektion Infektionskontrolle und Impfprogramm des Bundesamts für Gesundheit (BAG) nach den Gründen – und nach Möglichkeiten, wie sich die Impfbereitschaft in der Schweiz gezielt fördern lässt.

Zur Person

Virginie Masserey ist Fachärztin für pädiatrische Infektionskrankheiten und Spezialistin für Impfungen. Sie leitet die Sektion «Infektionskontrolle und Impfprogramm» beim Bundesamt für Gesundheit BAG.
Frau Masserey, warum steigt die Impfquote in der Schweiz nicht, wie sie sollte?
Es gibt eine Reihe von Gründen, warum wir keine so hohe Impfquote erreichen, wie wir es uns wünschen. Dabei gilt es auch anzumerken, dass wir nie eine Zielgrösse festgelegt haben. Ziel der Impfstrategie ist es in erster Linie, schwere Krankheitsverläufe, Hospitalisierungen und Todesfälle zu verhindern. Zu Beginn der Impfkampagne war kaum Impfstoff verfügbar. Es ging vor allem darum, die vulnerablen Menschen zu impfen. Zu diesem Zeitpunkt war die Nachfrage grösser als das Angebot. Laut Umfragen hat die Impfbereitschaft mit der Zeit weiter zugenommen. Im Juni haben wir dann richtig viele Impfdosen erhalten. Zu diesem Zeitpunkt, zu Beginn der Sommerferien und während sich die Epidemie günstig entwickelte, machte der Trend eine Kehrtwende: Das Angebot überstieg nun die Nachfrage. Man konnte davon ausgehen, dass die Zahl der Impfungen nach den Ferien erneut steigen würde. Just zu diesem Zeitpunkt begann die Delta-Variante sich durchzusetzen. Sie ist wesentlich ansteckender und erfordert eine sehr hohe Impfquote. Deshalb müssen wir jetzt alles dafür tun, noch mehr Menschen zur Impfung zu motivieren, auch wenn von den über 12-Jährigen bereits drei Viertel geimpft sind.
Eine aktuelle Umfrage der FMH zeigt, dass Patientinnen und Patienten ihren Hausärztinnen und Haus­ärzten vertrauen. Warum trauen die Menschen dem Aufruf des BAG zur Impfung bislang noch nicht genügend? Was sagen Sie Menschen, die den Impfstoff für noch zu wenig ausgereift halten?
In der Tat, die Patientinnen und Patienten vertrauen ihren Ärztinnen und Ärzten. Wir zählen deshalb darauf, dass die Ärztinnen und Ärzte ihnen alle Informa­tionen und Antworten zur Hand geben, die sie benö­tigen, um sich für eine Impfung zu entscheiden. Aus Umfragen geht hervor, dass das Vertrauen in das BAG ebenfalls hoch ist. Diejenigen, die sich nicht impfen lassen möchten, nennen als wichtigsten Grund, dass die Impfstoffe zu schnell entwickelt wurden. Die mRNA-Impfstofftechnologie wird jedoch schon seit über zehn Jahren erforscht. Es war eine Chance, diese Technologie gegen das Coronavirus nutzen zu können. Wir hatten auch das Glück, dass das Schlüsselprotein für einen Immunschutz gegen dieses Virus, das Spike-Protein, sehr schnell identifiziert wurde. Aufgrund der Dringlichkeit, die die Pandemie schuf, stand für die Durchführung der erforderlichen Studien viel Geld zur Verfügung. Alle Studien wurden so schnell wie möglich, aber eben nach allen wissenschaftlichen Standards durchgeführt. Und die für die Arzneimit­telzulassung zuständigen Behörden analysierten sämtliche Daten, sobald diese vorlagen. Auch das sparte Zeit.
Das Prinzip des mRNA-Impfstoffs ist sehr einfach und basiert auf dem natürlichen Prinzip der Proteinproduktion. Heute haben wir bereits viel Erfahrung ­damit: Millionen von Menschen sind mit diesen Vakzinen geimpft worden, und da die Aufmerksamkeit für mögliche Nebenwirkungen sehr hoch ist, wissen wir, dass die Risiken in Zusammenhang mit der Impfung sehr gering sind – viel geringer als die Risiken in Zusammenhang mit einer Infektion durch das Virus.
Könnte die Impfunwilligkeit an der bisherigen Kommunikationsstrategie des BAG liegen? Immerhin haben verschiedene Informationen im Laufe der Pandemie durchaus Anpassungen erfahren.
Es ist richtig, dass sich im Verlauf der Pandemie Anpassungen in den Informationen ergeben und ergeben haben, aufgrund sich verändernder Datenlagen. Die Kommunikation des BAG zu den Impfstoffen ist präzise, umfassend und konsistent. Eine grosse Heraus­forderung stellen soziale Netzwerke und die dort kursierenden Falschinformationen dar. Diejenigen, die Impfstoffen misstrauisch gegenüberstehen, finden unweigerlich Informationen, die ihre Befürchtungen zu bestätigen scheinen. Aufgrund der von den sozialen Netzwerken verwendeten Algorithmen, die eine gezielte Ausrichtung der angezeigten Nachrichten auf das Profil der Nutzerinnen und Nutzer ermöglichen, erhalten diese umso mehr Informationen, die sie in ­ihren Annahmen bestärken. Daher ist es besonders wichtig, diese Personen direkt über kompetente, geschulte und vertrauenswürdige Personen wie Ärztinnen und Ärzte oder andere Angehörige der Gesundheitsberufe erreichen zu können.
Nun hat das BAG eine Ziel-Impfquote formuliert. Welche epidemiologischen Daten liegen dieser Zielgrösse zugrunde?
Die angegebenen Werte für die Impfquote sind keine Zielvorgabe, sondern Richtwerte, eine Grössenordnung, an der man sich orientieren kann. Diese Werte (80% der 18- bis 64-Jährigen und 93% der über 65-Jährigen) stammen aus Schätzungen, in die Beobachtungen aus Ländern, in denen sämtliche Massnahmen weg­gefallen sind, und Modellierungsdaten eingeflossen sind. Sie beinhalten zudem Schätzungen über den ­Anteil an Menschen, die infolge einer überstandenen Infektion immun sind. Das Hauptziel besteht darin, den Anteil vulnerabler Personen so weit wie möglich zu verringern, insbesondere in Gruppen, bei denen ein hohes Risiko besteht, im Falle einer Infektion ins Spital eingeliefert zu werden. Bei einem so ansteckenden ­Virus wie der Delta-Variante ist eine sehr hohe Impf­quote erforderlich, um eine übermässige Belegung der Spitalbetten und eine Überlastung der Intensivsta­tionen zu vermeiden.
Was bedeutet das Erreichen der Ziel-Impfquote für die Bevölkerung in der Schweiz?
Sobald das Immunitätsniveau in der Bevölkerung ausreichend ist, braucht man weniger ergänzende Massnahmen zur Vermeidung einer Übertragung. Man kann das Virus dann zirkulieren lassen, weil die Zahl der Erkrankten nicht mehr zu hoch ist und weil vor ­allem kein Risiko mehr besteht, dass die Intensivsta­tionen überlastet werden könnten. Allerdings sollte man auf das Auftreten von Varianten achten, die die erworbene Immunität aushebeln könnten, sowie auf die mögliche Abnahme der Immunität im Laufe der Zeit. Zumindest für bestimmte Bevölkerungsgruppen können Auffrischungsimpfungen mit den bekannten oder angepassten Impfstoffen erforderlich sein.
Was bedeutet das Nicht-Erreichen der Ziel-Impfquote für die Bevölkerung in der Schweiz?
Dann müsste der Zugang zu bestimmten Orten oder Aktivitäten mit einem hohen Übertragungsrisiko eingeschränkt bleiben und Hygienemassnahmen wie das Tragen von Masken, Abstand halten und regelmässiges Händewaschen müssten beibehalten werden. Dies wäre erforderlich, um eine Überlastung der Spitäler zu vermeiden – eine Überlastung, die sich nicht nur auf die Behandlung von Menschen mit Covid, sondern auch auf Menschen mit anderen Gesundheitsproblemen auswirken würde.
Lassen sich Bevölkerungsgruppen ausmachen, die nicht erreicht werden?
Erhebungen zufolge entscheiden sich etwa 10–15% der erwachsenen Befragten gegen eine Impfung. Da das ­Virus so ansteckend ist, werden diese Menschen sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann an­stecken, falls dies nicht schon geschehen ist (was auch einer der genannten Gründe ist, warum Menschen sich nicht impfen lassen wollen). Ein Teil dieser Menschen wird einen schweren Krankheitsverlauf haben. Wir müssen verhindern, dass sich zu viele dieser Menschen in kurzer Zeit infizieren, die Spitäler überlastet werden und manche der Infizierten, aber auch Menschen mit anderen Gesundheitsproblemen, nicht angemessen behandelt werden können.
Lange hiess es, die grosse Mehrheit der Covid-19-Fälle verlief mild. Stimmt diese Aussage heute nicht mehr?
Diese Aussage trifft weiterhin zu. Das Problem der ­Pandemie besteht vor allem darin, dass es in der Bevölkerung zuvor keine entsprechende Immunität gab, dass das Virus hochgradig ansteckend ist und dass wir daher mit vielen Infektionen in kurzer Zeit konfrontiert werden. Selbst wenn der Anteil der schweren Fälle gering ist (1–2% der Infizierten müssen ins Spital eingeliefert werden), reicht dies aus, um eine erhebliche Überlastung der Gesundheitsversorgung zu verur­sachen, insbesondere der Intensivpflege, da es in kurzer Zeit viele Infizierte geben kann. Der Anteil der schweren Fälle nimmt mit dem Alter stark zu (bei Infizierten über 70 Jahre beträgt die Hospitalisierungsquote 15–20%). Schwere Verläufe können jedoch in jedem Alter auftreten. Der wichtigste Aspekt ist, dass etwa 15–20% der ins Spital Eingewiesenen intensiv­medizinisch betreut werden müssen, was lange dauern kann (im Durchschnitt 10 Tage), gefolgt von ebenfalls langwierigen Rehabilitationsmassnahmen.
Gerade Jugendliche und Menschen unter 65 Jahren könnten sich aber in falscher Sicherheit wiegen?
Sobald die Impfquote bei den über 65-Jährigen ein ­hohes Niveau erreicht hatte, kam es bei den nicht geimpften unter 65-Jährigen zu einem Anstieg der Fälle und der Spitalaufenthalte. Auf dem Höhepunkt der letzten Epidemiewelle waren mehr als 90% der ins ­Spital eingelieferten Personen ungeimpft, die Hälfte von ihnen war jünger als 53 Jahre. Knapp 16% der auf der Intensivstation Behandelten waren zwischen 20 und 39 Jahren alt.
Derzeit berichten die Medien davon, dass die beiden bislang mehrheitlich in der Schweiz im Einsatz stehenden Impfstoffe unterschiedlich wirksam bzw. allenfalls auch unterschiedlich lange wirksam sind. Wie ist hier derzeit der Stand der Wissenschaft?
Die beiden in der Schweiz erhältlichen mRNA-Impfstoffe schützen in allen Altersgruppen hochwirksam vor einer Hospitalisierung aufgrund von SARS-CoV-2 (mehr als 90%). Das ist letztlich der wichtigste Aspekt. Die verfügbaren Daten aus verschiedenen Ländern deuten darauf hin, dass der Schutz vor einer Infektion im Laufe der Zeit abnimmt, dass der Schutz gegen die Delta-Variante stärker abnimmt und die Abnahme bei einem der beiden Impfstoffe etwas stärker ausgeprägt ist als bei dem anderen. Aber das ist eben nicht der wichtigste Aspekt: Was wir durch die Impfung ja vor allem vermeiden wollen, sind schwerwiegende Verläufe.
«Covid-Ausbruch in einem Pflegezentrum nach mRNA-Impfung», so der Titel eines Berichts in der «Schweizerischen Ärztezeitung» vom Oktober 2021. Was sagen Sie dazu?
Impfstoffe bieten keinen 100-prozentigen Schutz. Wenn in einer Einrichtung wie einem Pflegezentrum eine Infektion auftritt, ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen infizieren, auch vollständig geimpfte Personen. Wichtig ist, dass die Krankheit dort dank des Impfstoffs viel weniger schwerwiegend verläuft und dass der Ausbruch schnell endet, was in ­diesen Fällen im Allgemeinen zu beobachten ist.
Gibt es Personengruppen, die trotz Impfung nur schlecht geschützt werden können?
Personen, deren Immunsystem stark geschwächt ist (zum Beispiel aufgrund einer immunsuppressiven Therapie), sind möglicherweise nicht ausreichend ­geschützt. Es wird empfohlen, vier Wochen nach der Impfung die Antikörperreaktion zu überprüfen und im Fall, dass Antikörper nicht eindeutig nachweisbar sind, eine dritte Dosis zu verabreichen.
Bei welchen Patientinnen und Patienten soll von einer Impfung abgesehen werden?
Es gibt kaum Kontraindikationen für die Impfung. Wenn, dann handelt es sich um Personen mit einer schweren Allergie gegen einen der Bestandteile des Impfstoffs. Für unter 12-Jährige liegen derzeit keine ausreichenden Daten vor. Für Schwangere wird die Impfung mit mRNA-Impfstoffen ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel empfohlen, aber auch eine Impfung im ersten Drittel ist möglich.
Wie lässt sich das Gerücht um den Einfluss aufs ­Erbgut wirksam entkräften?
Die mRNA bleibt ausserhalb des Zellkerns und somit ausserhalb desjenigen Teils der Zelle, der die genetischen Informationen (die DNA) enthält. Und die mRNA kann sich nicht in DNA verwandeln und in das Genom der Zelle eindringen.
Steht der Bevölkerung künftig eine jährliche oder zwei Mal jährliche Impfung gegen das Coronavirus bevor?
Das wissen wir noch nicht. Um dies beurteilen zu können, benötigen wir einen längeren Beobachtungszeitraum. Die Antwort auf diese Frage wird sicherlich auch von den Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf sowie von der Entwicklung von Varianten abhängen.
Vielleicht würden sich die Menschen lieber bei ihrem Hausarzt oder bei ihrer Hausärztin impfen lassen?
Das ist nachvollziehbar. Die Verabreichung der derzeit verfügbaren Impfstoffe in der Arztpraxis ist mit logistischen Schwierigkeiten verbunden (Lagerung im ­Gefrierschrank bei sehr niedrigen Temperaturen und in Fläschchen mit mehreren Dosen, die nach dem Öffnen nur wenige Stunden aufbewahrt werden können). Wir stehen mit den Herstellern in regelmässigem Kontakt, aber eine Vermarktung in Form von Einzeldosierspritzen ist für die nahe Zukunft noch nicht geplant.
Gibt es etwas anderes, was Sie unseren Leserinnen und Lesern mitteilen möchten?
Impfungen sind ein bewährtes Mittel, Krankheiten zu verhindern. Dank der Fortschritte in Wissenschaft und Technik konnten in Rekordzeit sehr sichere und hochwirksame Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt werden. Die Impfkampagnen werden sehr genau überwacht, wobei sich die sehr gute Wirkung dieser Impfstoffe bestätigt. Wir Ärztinnen und Ärzte sollten ­bestens informiert sein und uns die Zeit nehmen, die Fragen unserer Patientinnen und Patienten in Ruhe zu beantworten. Alle Fragen sind legitim und ernst zu nehmen.

Informationskampagnen des BAG

Das BAG realisiert eine landesweite Informationskampagne zur Covid-19-Impfung. Auf www.bag-coronavirus.ch kann das gesamte Kampagnenmaterial für den individuellen Einsatz heruntergeladen werden. Dort befinden sich auch viele weitere Informationen, die bei der Patientenberatung hilfreich sind.
Unter anderem werden Mythen zur Covid-19-Impfung durch Expertenvideos aufgelöst. Zudem gibt es einen übersichtlichen Faktencheck mit wissenschaftlichen Erläuterungen zu verbreiteten Impfmythen. Im Videoformat erklären ausserdem eine Ärztin und andere Gesundheitsfachpersonen, weshalb sie sich impfen liessen. Das Bundesamt für Gesundheit erklärt auf der Website auch die Prozesse von der Entwicklung, Herstellung und Zulassung von Impfstoffen.
Auch häufig gestellte Fragen werden thematisiert. Dazu gehören unter anderem Fragen rund um die Impfung bei Kindern und Jugendlichen oder während der Schwangerschaft und Stillzeit. Auch Fragen zur Auffrischungsimpfung, zu Nebenwirkungen und Haftung oder zur Änderung der Massnahmen für geimpfte Personen werden beantwortet
Darüber hinaus bietet die Website Informationen zu den Themen Testen, Zertifikat und SwissCovidApp.
Vielen Dank für das Gespräch.
Infoline Coronavirus für
Gesundheitsfachpersonen
+41 58 462 21 00,
täglich 7–20 Uhr