Genetische Beratung: Die Angehörigen nicht vergessen!

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20173
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(08):272

Affiliations
Prof. em. für Medizinische Genetik, Universität Basel

Publiziert am 22.02.2022

Die Diagnose einer Krankheitsveranlagung oder manifesten Erbkrankheit hat für alle «Angehörigen» Kon­sequenzen, ob blutsverwandt, angeheiratet oder sozial (Freunde, Arbeitskolleginnen und -kollegen). Sie müssen angemessen informiert werden.
Blutsverwandte sollten sich genetisch beraten lassen, da sie die Veranlagung aufweisen könnten. Dies gilt nicht nur für Kinder oder Geschwister, sondern auch für entfernte DNA-Verwandte. Wenn nicht klar ist, von welcher elterlichen Seite die Veranlagung stammt, muss man beide familiären Zweige informieren. Die Orientierung über genetische ­Diagnosen und ver­lässlich festgestellte Testresultate ist gerade dann ­angezeigt, wenn wirksame Vorbeugemassnahmen bestehen, dank denen sich schwere klinische Auswirkungen einer Veranlagung durch präventive und thera­peutische Massnahmen verhindern lassen, wie dies beim Lynch-Syndrom ­(hereditärer Dickdarmkrebs) oder «Jolie-Syndrom» ­(hereditärer Brustkrebs- und Eierstockkrebs) der Fall ist. Bei molekulargenetischen ­Abklärungen sollten ­Kopien der Originalberichte für Blutsverwandte ­verfügbar sein.
Gelegentlich gilt es, Mythen zu überwinden, wie etwa, dass Erbkrankheiten eine Generation überspringen oder nur durch Frauen übertragen würden, oder, dass die Kosten für Gentests zu teuer seien und Krankenkassen sie daher nicht übernehmen müssten. Die Entscheidung, ob sich jemand nach der entsprechenden Orientierung abklären lassen will, ist allerdings sehr persönlich. Man darf niemanden dazu drängen.
Kinder sollten erst dann aufgeklärt und getestet werden, wenn das Ergebnis für ihre eigene Gesundheit von Relevanz ist. Daher gilt es abzuklären, in welchem ­Alter die ersten klinischen Folgen einer Krankheitsveranlagung beobachtet wurden. Kinder sind von der – wenn auch begreiflichen – Neugierde der Eltern und einer unnötigen Stigmatisierung zu schützen.
Das ­Aufziehen von betroffenen und nicht-betroffenen Geschwistern kann zudem die familiären Beziehungen erschweren. Ab dem 16. Altersjahr sind Jugendliche – je nach Entwicklungsstand auch schon früher – in der Lage, eigenständig über eine genetische Abklärung zu entscheiden. Wenn sie die genetische Beratung ohne elterliche Begleitung aufsuchen, gibt dies die Möglichkeit, offen über die mit einer Veranlagung im Zusammenhang stehenden Fragen zu sprechen. Eltern haben häufig unberechtigte Schuldgefühle und eigene Vorstellungen über den Umgang mit einer Erbkrankheit. Sie dürfen den Schritt ihrer Kinder in die Selbständigkeit nicht behindern oder gar versuchen, Einfluss auf deren künftige Familienplanung zu nehmen.
Während Blutsverwandte das Wesen einer Erbkrankheit und die damit verbundenen Probleme häufig mitbekommen haben, ist dies für Angeheiratete nicht der Fall. Sie müssen daher entsprechend informiert werden. Geradezu vorbildlich bieten psychiatrische Kliniken Beratungen für Angehörige an, damit sie mit einer Fachperson über die dadurch entstandenen Belastungen und Sorgen sprechen können. Ein solches Angebot ist auch vonseiten der genetischen Beratungszentren erwünscht. Zudem kann diese Information auch für Personen im familiären und beruflichen Umfeld ­hilfreich sein, um eventuelle Einschränkungen von Betroffenen besser einschätzen und tolerieren zu ­können.
Das Informieren von Angehörigen mag als schwierige Aufgabe erscheinen und kann nicht für alle gleich sein. Man muss dies den einzelnen Angehörigen anpassen und dabei auch aktuelle Umstände, wie den Tod von Familienmitgliedern, berücksichtigen. Es gibt verschiedene Wege der Kommunikation, die alle ihre ­Vor- und Nachteile haben: persönliches Treffen, Fami­lienzusammenkunft, Brief, E-Mail, Telefonanruf oder Videochat. Erwachsene Kinder können sich am Informieren von Angehörigen beteiligen. Nicht jedermann nimmt medizinisch-genetische Informationen gleich wahr; man reagiert auf deren Mitteilung unterschiedlich. Einzelne wollen gleich alles wissen. Andere ­wünschen sich vorerst eine Aufklärung durch die sie betreuende Ärzteschaft.
hansjakob.mueller[at]unibas.ch