a Prof. Dr. med., Generaldirektor, Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit (Unisanté), Lausanne; b Prof. Dr. med., Direktor, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Bern; c Prof. Dr. med., Medizinischer Leiter, Universitätsspital CHUV, Lausanne; d Prof. Dr. med., Direktor, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, Universitätsspital, Zürich; e Prof. Dr. med., Medizinischer Direktor des Universitätsspitals (HUG), Genf
Medizinische Einrichtungen mit akademischem Lehr- und Ausbildungsauftrag sind besonders. Sie haben ihre ganz eigenen Führungsstrukturen. Was zeichnet sie aus, und welche Fähigkeiten braucht es, um sie zu leiten? Eine Arbeitsgruppe hat sich mit diesen Fragen befasst und Leitsätze formuliert.
Während es eine Fülle von Büchern, Kursen und Websites zum Thema Leadership gibt, findet man nur sehr wenig Material zur speziellen Situation der Leadership im akademischen Lehrspital (ambulanter Bereich, stationärer Bereich, universitär) einschliesslich Lehr- und Forschungsaufgaben an der medizinischen Fakultät.
Dieser Artikel soll einen Teil dieser Lücke schliessen. Er entstand als Ergebnis der Überlegungen einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe von Chefärzten aus der Deutschschweiz und der französischen Schweiz, die für universitäre Weiterbildungsstätten für Allgemeine Innere Medizin verantwortlich sind. Die Arbeitsgruppe bestand aus Männern der Babyboomer-Generation, die sich der Grenzen ihrer Erfahrungen bewusst waren, als es darum ging, diese Thematik bei Angehörigen der jüngeren Generationen anzusprechen. Die Arbeitsgruppe glich deshalb ihre Überlegungen in Workshops mit der Meinung junger Kolleginnen und Kollegen der Generationen X (1966–1976) und Y (Millennials, 1980–1990) ab, die im akademischen Umfeld tätig sind.
Nach der Beschreibung der Hauptmerkmale akademischer Lehrspitäler bietet dieser Artikel ein Referenzsystem für diejenigen, die die erwähnte Verantwortung übernehmen wollen oder werden, sowie Vorschläge zur Entwicklung von Leadership-Skills.
Was bedeutet Leadership?
Über die Managementrolle hinausgehend kann Leadership als die Fähigkeit einer Person definiert werden, einer Gruppe von Menschen Orientierung zu geben und sie in die Lage zu versetzen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Allgemein ausgedrückt bedeutet das, den Erfolg einer Organisation auf angemessene und effiziente Art und Weise zu sichern.
Ausgehend von dieser Definition stellen sich mehrere Fragen: Welche spezifischen Charakteristika des akademischen Settings (Spital, Poliklinik, stationäre und/oder ambulante Abteilung) sind für erfolgreiche Leadership ausschlaggebend? Welche spezifischen Leadership-Kriterien sind für die Leitung akademischer Strukturen erforderlich? Wie lässt sich das Profil einer Führungsperson in einem Kontext definieren, der sowohl klinische, akademische als auch Management-Komponenten umfasst? Welche Fallstricke und Fehlentwicklungen sollten vermieden werden? Wie kann man sich aus der Rolle der Managerin bzw. des Managers, die oft hierarchiebedingt über Autorität verfügt, hin zu einer Führungsperson entwickeln, die sowohl von anderen Führungskräften wie auch von den Mitarbeitenden anerkannt wird?
Um diese Fragen anzugehen, hielt die Arbeitsgruppe drei zweistündige Sitzungen ab, in denen die Methode des internen Konsenses angewandt wurde. Sie stützte sich dabei auf einen Literaturkorpus, der hauptsächlich aus akademischen Kreisen im englischsprachigen Raum oder aus Québec stammt [1–5]. Darauf aufbauend folgten vier Workshops mit etwa fünfzig Ärztinnen und Ärzten der Generationen X und Y, in denen essentielle Leadership-Merkmale herausgearbeitet wurden. Temporäre Besonderheiten (z.B. das Auftreten einer Pandemie) oder persönliche Aspekte (z.B. Gehalt) wurden hier bewusst ausser Acht gelassen.
Ergebnisse
Besonderheiten im akademischen Lehrspital
Tabelle 1 fasst die Besonderheiten akademischer Lehrspitäler zusammen, die für die Anforderungen an moderne Führungskräfte (Leadership) ausschlaggebend sind.
– Dienstleistungen im Rahmen der somatischen und psychiatrischen Versorgung – Leistungserbringung im Rahmen therapeutischer und gegebenenfalls auch präventiver (Beratung) Massnahmen – Schaffung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse – Vermittlung klinischer Fachkompetenzen – Vermittlung von Wissen (Fach- und Verhaltenskompetenz)
– Staatliche Aufsichtsbehörde, häufig in Mischform: Universität–Kanton – Governance und Verwaltungsrat der akademischen Institution oft heterogen, repräsentativ für verschiedene berufliche Hintergründe, mitunter mit geringer «fachlicher» Kompetenz
Diverse Ressourcen:
– Öffentliche Hand (gemeinwirtschaftliche Leistungen), universitäre Mittel, Nationalfonds für wissenschaftliche Forschung usw.) – Kranken- und Privatversicherungen (Patientenversorgung) – Private: Finanzierung bestimmter Bereiche der Forschung und Entwicklung
Die Organisationsstruktur ist hier häufig pyramidal, insbesondere aufgrund des klinischen (medizinische Entscheidungsfindungen) und akademischen (akademische Hierarchisierung der Lehr- und Forschungszuständigkeiten) Kontexts. Das akademische Umfeld, das per se ambitiös und wettbewerbsorientiert ist, gestaltet die Leadership sehr komplex.
Da die Aktivitäten einer akademischen Struktur die Bereiche Management Klinik, Lehre und «Erschaffung» von Wissen (Forschung) umfassen, muss die Führungsperson über Fachkompetenz auf allen vier Gebieten verfügen.
Die akademische Organisation zeichnet sich weiter durch eine grosse Diversität der Mitarbeitenden aus, insbesondere hinsichtlich Alter, Ausbildung und kulturellen Backgrounds. Das Finanzierungsmodell ist häufig gemischt und beinhaltet unter politischer Aufsicht stehende Mittel aus öffentlicher und privater Hand, was ein komplexeres Management erfordert.
Auch ist die akademische Einrichtung als Arbeitsplatz speziell, ist sie doch sowohl Ort der medizinischen Versorgung als auch der Aus- und Weiterbildung. Studierende, Assistenzärztinnen und -ärzte in Weiterbildung, Kaderärztinnen und Kaderärzte sowie Pflegende nehmen an gemeinsamen Kolloquien teil. Zusätzlich finden hier oft nationale und internationale Kongresse statt.
Die von der verantwortlichen Führungsperson praktizierte Leadership (Führungsrolle) muss daher mit diesem System, dessen Funktionsregeln sowie der institutionellen Kultur in Einklang stehen. Das Verständnis des speziellen Umfelds, in dem sich die Führungsperson bewegt, ist somit von grosser Bedeutung.
Die Ernennung einer Klinikleiterin oder eines Klinikleiters, einer Direktorin oder eines Direktors derartiger Organisationsstrukturen erfolgt sehr häufig im Rahmen eines doppelten Auswahlverfahrens, sowohl eines institutionellen (Verwaltungsrat) als auch eines universitären (Fakultäts- und Universitätsleitungen), und manchmal sogar eines politischen (Staatsrat).
Hauptmerkmale für gute Leadership
Nach Festlegung der strukturellen Charakteristika wurden von der Arbeitsgruppe und den Teilnehmenden der Workshops die wichtigsten Merkmale einer medizinisch-akademischen Führungsperson ermittelt (Tab. 2).
Tabelle 2: Hauptmerkmale für gute Leadership in der Leitung eines akademischen Lehrspitals.
Merkmale
Kommentare, die in den Workshops häufig wortwörtlich so geäussert wurden
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
Nichts ist schlimmer als starrsinnige, unflexible Vorgesetzte!
Authentizität
Niemand ist perfekt! Sich selbst treu bleiben und keine fremde Rolle spielen
Klarheit und Weitblick
Mut zur Veränderung!
Breite Vision
Kontextualisierung des eigenen Handelns in einer institutionellen Perspektive
Überzeugung und Motivation
Achtung: Motivierung der Mitarbeitenden nicht mit Instrumentalisierung für die eigene Agenda verwechseln
Anerkannte fachliche Expertise
Fachwissen verleiht nicht nur Legitimation, sondern auch Glaubwürdigkeit
Ambitionierte Ziele für die Institution
Sicherstellen, dass die persönlichen Ambitionen mit der Funktion übereinstimmen
Grosszügigkeit
Man kann nicht Engagement fordern, wenn man selbst nicht dazu bereit ist
Mut
Mitunter ist es zur Problemlösung notwendig, mit Respekt, aber Entschlossenheit auf Konfrontation zu gehen
Resilienz gegenüber Stress und Druck
Stimmungsschwankungen ermüden die Mitarbeitenden!
Gute Kommunikation
Es wird selten zu viel kommuniziert!
Enthusiasmus
Mobilisierung der Gruppendynamik wird dadurch erleichtert
Ansprechbarkeit und Zuhören
Aktives Zuhören hilft, die Probleme richtig einzuschätzen
Wohlwollende Grundhaltung
Diese Eigenschaft ist nicht unvereinbar mit der Notwendigkeit, manchmal schwere Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen (z.B. sich von einem Mitarbeitenden zu trennen, der nicht die geforderte Leistung erbringt)
Kreativität
Unentbehrlich für die eigenen Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung
Vorbildfunktion
Wie kann man Anstrengungen bündeln, ohne mit gutem Beispiel voranzugehen?
Fähigkeit, im kompetitiven Umfeld zu führen
Das akademische Umfeld ist sehr wettbewerbsorientiert
Fähigkeit, Teams zusammenzuschweissen und nach vorne zu bringen
Manchmal stehen die Mitarbeitenden in Konkurrenz zueinander, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche akademische Beförderung
Fähigkeit, Ratschläge zu geben
Dies ist eine seitens der Mitarbeitenden am meisten erwünschte Kompetenz
Fähigkeit, Prioritäten zu setzen
Dadurch können die Teams ihre Energie fokussieren
Ausgeglichene Work-Life-Balance
Auftanken ist wichtig, um wieder Lust auf die Ausübung der beruflichen Tätigkeit zu bekommen
Natürlich wird von niemandem erwartet, dass er alle diese Eigenschaften besitzt. Vier Eigenschaften wurden von den Teilnehmenden der Workshops als besonders wichtig erachtet:
1. Weitblick: Dieser ermöglicht es, alle Dimensionen und Herausforderungen des akademischen Lehrspitals zu erfassen.
2. Mut: Manchmal müssen Entscheidungen getroffen werden, die nicht allen gefallen.
3. Zuhören: Aufmerksam, respektvoll und wohlwollend. Das schafft Vertrauen, Motivation und Erfolg.
4. Fähigkeit, Teams und Talente zu bündeln und voranzubringen: Mit anderen Worten, Energie zu übertragen.
Es wurde auch darauf hingewiesen, dass ein wohlwollendes Zuhören nicht verbietet, seine Ablehnung zu zeigen. Eine solche Situation kann zwar zu Spannungen führen, aber diese ermöglichen es manchmal, Schwierigkeiten anzugehen und sie so zu lösen.
Schliesslich wurde auch der Unterschied zwischen Management und Leadership angesprochen, obgleich beide Tätigkeiten viele gemeinsame Merkmale aufweisen. Die beiden folgenden Unterschiede wurden dabei herausgearbeitet: Erstens die Bedeutung der Vision, wie bereits das Zitat «managing is doing the things right, leading is doing the right things» nahelegt, und zweitens die Dichte des Entscheidungsprozesses, wobei die Führungsperson oft weniger Zeit hat und stärker unter Druck steht, Entscheidungen zu treffen.
Was vermieden werden sollte
Tabelle 3 fasst zusammen, was die Führungsperson, ihre Glaubwürdigkeit und ihre Führungskompetenzen bedroht, wobei von Egozentrik und Isolation die grössten Gefahren ausgehen.
Tabelle 3: Die wichtigsten Fallen und Fehlentwicklungen in der Leadership.
Fallen/Fehlentwicklungen
Kommentare, in den Workshops häufig verbatim so geäussert
Paternalistisch geprägte Sprache («meine», «mein» usw.)
Diese Sprachwahl ist veraltet
Selbstzufriedenheit
Verhindert das Hinterfragen
Egozentrismus
Verhindert Akzeptanz und Zustimmung
Selbstüberschätzung und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten
Dieses Risiko besteht vor allem dann, wenn man die Konfrontation mit anderen vermeidet
Autokratismus, Machtmissbrauch, Arroganz
Die Akzeptanz der Mitarbeitenden für eine Entscheidung der Führungsperson darf nicht auf diese Gründe zurückzuführen sein
Erschöpfung, Burnout
Klassische Falle!
Isolation, Elfenbeinturm
Vorsicht: Es muss vermieden werden, nicht mehr in der Lage zu sein, sich mit anderen auseinanderzusetzen
Nachlassen von Kompetenzen
Einige Fähigkeiten lassen, wie bei jedem Menschen, im Alter nach
Verschleiss
Wissen, wann man aufhören sollte!
Fehlender Widerspruch
Eigene Ideen mit denen anderer konfrontieren
Manipulation
Eine Führungsposition kann diese Fehlentwicklung begünstigen
Negativismus
Gegebenenfalls ist ein Burnout nicht weit
Bestreben, es immer allen recht zu machen
Dies hindert dabei, manchmal harte Entscheidungen zu treffen
Eine eigene Leadership-ID entwickeln
Glücklicherweise gibt es zahlreiche Möglichkeiten, diese Leadership-Kompetenzen zu erwerben bzw. zu entwickeln. Dazu gehören insbesondere: 1) Mentoring und Sponsoring durch erfahrenere Führungskräfte; 2) Einarbeitung auf verschiedenen hierarchischen Ebenen (oft schrittweise); 3) berufsübergreifendes Arbeiten, da man in der direkten Auseinandersetzung mit anderen Fachgebieten viel Neues lernt; 4) Coaching mit einem klar zielorientierten Programm; 5) Erfahrungs- und Praxisaustausch, um Problemlösungen zu ermöglichen; 6) Teilnahme an Arbeitsgruppen für «zukünftige Führungskräfte». In diesem Zusammenhang auch zu erwähnen sind das Schweizer Programm H.I.T (High Potential University Leaders Identity and Skills Training Program) für Professorinnen [6] und das von der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) gesponserte Buch zur oberärztlichen Tätigkeit [7]. Ausserdem dürfte bald eine Community von Interessierten ins Leben gerufen werden, die sich speziell dieser Thematik widmet.
Die in diesem Artikel aufgeführten Kriterien stammen aus einer explorativen, qualitativen und auf ein Team von jungen Ärztinnen und Ärzten aus der Westschweiz beschränkten Arbeit, folgen jedoch im Grossen und Ganzen den Empfehlungen der internationalen, hauptsächlich englischsprachigen Fachliteratur [2–4].
Das Wichtigste in Kürze
• Dieser Artikel gibt eine Definition von akademisch-medizinischen Strukturen und der für diese Art von Institutionen spezifischen Führung.
• Die wichtigsten Merkmale dieser Führung sind Weitblick, Mut, gutes Zuhören und die Fähigkeit, Teams und Talente zusammenzuführen und voranzubringen.
• Was gefährdet die Glaubwürdigkeit einer Führungskraft und ihre Führungskompetenzen? Die grössten Risiken bestehen in der Egozentrik und der Isolation.
• Diese Führungskompetenzen lassen sich durch Mentoring, das Erleben von Situationen auf verschiedenen Hierarchiestufen, interprofessionelles Arbeiten, Coaching, Erfahrungsaustausch und die Teilnahme an einer Gruppe für «zukünftige Führungskräfte» entwickeln.
• Die im Artikel formulierten Ansätze wurden von einer Arbeitsgruppe von Chefärzten, die für Weiterbildungsstätten für Allgemeine Innere Medizin verantwortlich sind, in Zusammenarbeit mit jungen Ärztinnen und Ärzten aus dem akademischen Umfeld erarbeitet.
Danksagung
Unser herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Peter Suter für seine wertvollen Ratschläge und den jungen Ärztekolleginnen und -kollegen, die uns während der Workshops mit ihren Sichtweisen und Überlegungen unterstützt haben.
Korrespondenz
jacques.cornuz[at]unisante.ch
Literatur
1 Clavien PA, Deiss J. Ten tips for choosing an academic chair. Nature. 2015;519:286–7.
2 Vassie C, Smith S, Leedham-Green K. Factors impacting on retention success and equitable participation in clinical academic careers: a scoping review and meta-thematic synthesis. BMJ Open. 2020;5:10(3).
3 Salata Robert A, Geraci Mark W, Rockey Don C. U.S. Physician-Scientist Workforce in the 21st Century: Recommendations to Attract and Sustain the Pipeline. Academic Medicine. 2018;93(4):565–73.
7 Roten C, Perrig M. Die oberärztliche Tätigkeit – eine neue Herausforderung, Ein praktischer Leitfaden. Göttingen: Hogrefe; 2021. ID:A17909_M P-ID:A17909_M