Rechtliche Verankerung neuer Pflegeberufe

Advanced Practice Nursing in der Krankenversicherung

Tribüne
Ausgabe
2022/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20414
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(04):118-119

Affiliations
Dr. iur., Prof. FH, Dozent an der Berner Fachhochschule, Bern

Publiziert am 25.01.2022

In der Fachwelt und in der Politik scheint ein Konsens darüber zu herrschen, dass neue Pflegemodelle das Potenzial haben, die Qualität und die Effi­zienz der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Die rechtliche Umsetzung orientiert sich an den Prinzipien des Krankenversicherungsrechts. Diese müssen ­allerdings auch im Lichte übergeordneter, verfassungsrechtlicher Vorgaben dis­kutiert werden.
Im September 2020 hat der Nationalrat ein Postulat der Nationalrätin Marianne Streiff-Feller [1] angenommen, das dem Bundesrat den Auftrag erteilt, die rechtliche Verankerung von Pflegeexpertinnen und -experten zu prüfen. Der Konsens scheint im Grundsatz breit abgestützt: Der Bundesrat hat die Annahme des Postulats beantragt, Mitglieder aus sechs Fraktionen haben den Vorstoss unterzeichnet, die parlamentarische Mehrheit war komfortabel (108 zu 74 Stimmen). Der Bericht des Bundesrates steht zurzeit noch aus, im ­Hinblick auf die rechtliche Umsetzung zeichnen sich allerdings auf zweierlei Ebenen Fragen ab.
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Gesetzliche Stolpersteine

Das Postulat zielt im Kern darauf ab, Advanced-Practice-Rollen in der Pflege (wie z.B. Nurse Practi­tio­ner) unter anderem krankenversicherungsrechtlich abzubilden: Pflegefachpersonen, die durch eine aka­demische Ausbildung auf Masterstufe Expertenwissen und Entscheidungsfindungskompetenzen in komplexen Pflegesituationen erworben haben, sollen die ­Fallführung in der Versorgung von chronisch oder mehrfach erkrankten Menschen übernehmen und Leistungen direkt zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen können.
Zwei Grundprinzipien des geltenden Krankenversicherungsgesetzes [2] stehen diesem Ziel entgegen:
– Anordnungsprinzip: Grundsätzlich können nur Ärztinnen und Ärzte Leistungen zur Krankheitsbehandlung direkt auslösen, alle anderen Leistungserbringerinnen und -erbringer können nur auf ärztliche Anordnung hin tätig werden [3]. Eine echte Ausnahme besteht für Chiropraktorinnen und Chiropraktoren, und eine scheinbare Ausnahme ­besteht bei Mutterschaftsleistungen, die von Hebammen ohne ärztliche Anordnung erbracht werden können [4]. Scheinbar ist diese Ausnahme, weil Mutterschaft keine Krankheit ist, so dass vom Kern des Anordnungsprinzips nicht abgewichen wird.
– Listenprinzip bei nicht-ärztlichen Leistungen: Bei ­allen Leistungen, die nicht von Ärztinnen oder ­Ärzten erbracht werden, gilt ein strenges Listenprinzip, wonach nur Leistungen kassenpflichtig sind, die ­explizit in einem Rechtsakt (in der Regel in einer Verordnung) gelistet sind. Im Bereich der Pflegeleistungen findet sich heute ein Leistungs­katalog in der departementalen Krankenpflege-Leistungsverordnung, der mit Blick auf die Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten überprüft werden muss.
Beide Prinzipien beruhen auf Gesetzes- oder Verordnungsrecht. Das heisst, sie können bei einem entsprechenden gesetzgeberischen Willen angepasst werden. In der politischen Diskussion kommt beiden Prinzipien seit Jahrzehnten allerdings eine fast naturrechtlich anmutende, überpositive ­Bedeutung zu, um die Wirtschaftlichkeit des Systems sicherzustellen.
Zuletzt hat der Bundesrat das Anordnungsmodell in seiner Botschaft zur Pflegeinitiative mit dem Verweis auf den Beitrag legitimiert, den das Anordnungs­modell zur Koordination von Diagnose und Therapie leistet, womit Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit gefördert werden [5].

Zielkonflikt des Bundesrats

Bereits in seiner Stellungnahme zum Postulat Streiff-­Feller erwähnt der Bundesrat das Risiko einer Mengenausweitung und unterstreicht die Bedeutung der Frage, «ob und wie neue Pflegemodelle [...] so ge­fördert werden können, dass neben der Verbesserung der Versorgungsqualität auch eine Dämpfung der ­Kostenentwicklung ­erfolgt». Das Primat des Kosten­arguments, das in der bundesrätlichen Argumentation anklingt und eine Kosten-Nutzen-Abwägung auszuschliessen scheint, dürfte in erster Linie (sozial-)politisch motiviert sein: Die Finanzierung der Kran­kenversicherung über Kopfprämien, die weder auf die Grösse noch auf die ökonomische Situation eines Haushalts Rücksicht nehmen, stösst offensichtlich an Grenzen, die auch nicht durch die kantonalen Prä­mienverbilligungsmodelle spürbar verschoben werden.
Für dieses Primat des Finanzierungsarguments findet sich allerdings keine verfassungsrechtliche Grundlage, im Gegenteil:
– Der Sozialzielkatalog der Bundesverfassung (BV) [6] gibt Bund und Kantonen unter anderem die Aufgabe vor, dass «jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält» [7]. Zwar sind die So­zialziele im Rahmen der «verfügbaren Mittel» ­an­zustreben, was aber keinen absoluten Vorrang des Kostenarguments bedeutet und nichts daran ­ändert, dass das ­Sozialziel eine Handlungsverpflichtung postuliert, die als formelles Verfassungsrecht verbindlich ist [8].
– Art. 117a BV verpflichtet Bund und Kantone, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine ausreichende, ­allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität zu sorgen. Dieser Verfassungsauftrag ist erst 2014 als direkter Gegenentwurf zu ­einer Volksinitiative («Ja zur Hausarztmedizin») mit einem Jastimmenanteil von 88,1% vom Stimmvolk angenommen worden. Da bei jüngeren Normen historische Auslegungselemente an Gewicht gewinnen [9], lohnt sich ein Blick in die Materialien: Insbesondere die Botschaft des Bundesrates erwähnt wiederholt eine integrierte, interprofessionell erbrachte Versorgung als Kern des Verfassungsauftrages von Art. 117a BV [10]. Die Annahme der Pflegeinitiative durch das Stimmvolk am 28. November 2021 unterstreicht diesen Grundversorgungsauftrag und liefert eine zusätzliche demokratische Legitimation, rechtlich ist der neue Art. 117c BV aber in erster Linie eine Präzisierung ohne oder mit nur geringer konstitutiver Wirkung.

Qualität sollte im Fokus stehen

Neue Pflegemodelle sind idealerweise mit einem echten Effizienzgewinn verbunden. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive sind neue Pflegemodelle allerdings unabhängig von einer kostendämpfenden Wirkung weiterzuverfolgen, wenn sie zu einer sachgerechten Weiterentwicklung des Leistungsrechts und damit zu einer medizinischen Grundversorgung von hoher Qualität nach Art. 117a BV beitragen.
Die Eindämmung der finanziellen Belastung für ­Prä­mienzahlerinnen und Prämienzahler ist unbestritten ein legitimes Ziel, das dem Versorgungsziel verfassungsrechtlich aber nicht vorgeht. Dieses Ziel sollte deshalb nicht in ­erster ­Linie über die Definition des Leistungskatalogs, sondern über eigenständige Modelle zur ­Finanzierung und Verteilung der Kosten ­verfolgt ­werden.

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pascal.coullery[at]bfh.ch
1 Postulat Streiff-Feller (19.4278): Versorgungslücken schliessen. Es ist Zeit für neue Pflegemodelle. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20194278
2 Bundesgesetz vom 18.3.1994 über die Krankenversicherung (KVG).
3 Art. 25 Abs. 2 Bst. a KVG.
4 Art. 29 Abs. 2 Bst. a KVG.
5 Botschaft vom 7.11.2018 zur Volksinitiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)», BBl 2018, 7664.
6 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV).
7 Art. 41 Abs. 1 Bst. b BV.
8 Rhinow R. Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsverfassung. In: Zimmerli U (Hrsg.). Die neue Bundesverfassung – Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft. Bern: Stämpfli; 2000, 174.
9 Tschannen P, Zimmerli U, Müller M. Allgemeines Verwaltungsrecht. 4. Aufl. Bern: Stämpfli; 2014, 209, Rz. 5.
10 So etwa BBl 2011, 7554 und 7573 (der direkte Gegenentwurf stellt «eine vernetzte, koordinierte und multiprofessionell erbrachte medizinische Grundversorgung ins Zentrum») bzw. 7568 und 7579f. («Deshalb sollte in Zukunft verstärkt auf eine integrierte Versorgung hingearbeitet werden, in der zur Beratung, Triage und Behandlung der Patientinnen und Patienten auch andere Fachpersonen der medizinischen Grundversorgung einbezogen werden»).