Unser Neujahrswunsch: WZW-Kriterien für die Gesundheitspolitik

FMH
Ausgabe
2022/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20444
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(0102):4

Affiliations
Dr. med., Präsidentin FMH

Publiziert am 04.01.2022

Vom Jahr 2021 dürfte der Ärzteschaft vor allem die Covid-19-Pandemie in Erinnerung bleiben – so wie sie bereits 2020 prägte und auch 2022 prägen dürfte. Viele von uns fühlten sich in dieser Pandemie häufig von der Politik im Stich gelassen. Diese ist zwar nicht untätig – im Gegenteil – doch ihre Aktivitäten sind wenig auf die Praxis der medizinischen Versorgung abgestimmt und verursachen nicht selten zusätzliche Probleme. Vielen Praxisärztinnen wird z.B. in Erinnerung bleiben, wie Impfungen angekündigt wurden, ohne dass sie Impfstoff hatten, vielen Spitalärzten, wie Bund und Kantone die Infektionszahlen rasant steigen liessen – in der Hoffnung, die medizinische Versorgung werde das schon irgendwie auffangen.
Man könnte meinen, diese Pandemie hätte bislang klar gezeigt, was in unserem Land gut funktioniert und was weniger. Während die Patientenversorgung unter schwierigsten Bedingungen Höchstleistungen erbrachte und eine im internationalen Vergleich sehr tiefe Covid-19-Letalität bewirkte, versagten Prozesse in behördlicher Verantwortung mehrfach. Dennoch scheint das Vertrauen einiger Akteure in den Mehrwert immer stärkerer staatlicher Eingriffe in das ­Gesundheitswesen ungebrochen. Nachdem sich von 2000 bis 2020 die gesundheitspolitischen Parlamentsgeschäfte mehr als verfünffachten und die Gesetzestexte stärker wuchsen als die Gesundheitskosten, traten auch im Jahr 2021 neue Gesetze in Kraft: Neu sollen auch die Zulassungsregelung und das Gesetz für Qualität und Wirtschaftlichkeit Überversorgung verhindern. Zudem wurde eine Vielzahl neuer Regelungen des ersten Kostendämpfungspakets verabschiedet.
Die umfangreichste Regulierungsvorlage steht uns allerdings erst 2022 mit der sogenannten «Zielvorgabe» bevor, die der Bundesrat als indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative vorlegen möchte. Wäre der Bundesrat ein Arzt, müsste er sich berechtigterweise fragen, ob die von ihm empfohlene «Therapie» WZW-konform ist, also wirksam (W), zweckmässig (Z) und wirtschaftlich (W). Die Zielvorgabe ist dies eindeutig nicht. Die Unwirksamkeit vorab fixierter Budgets zeigen sowohl die Studien des Bundes als auch der Blick ins Ausland, wo die Kosten vergleichbar steigen. Auch die Zweckmässigkeit einer Zielvorgabe darf ­bezweifelt werden, hat doch der Kostenzuwachs von ~2,5% in den letzten zehn Jahren selbst das erst langfristig anvisierte Ziel von 2,7% bereits unterboten. Dennoch Zielvorgaben und -kontrollen zu etablieren, käme damit einer «Überbehandlung» gleich. Und last but noch least kann, was überflüssig ist, auch nicht wirtschaftlich sein, umso weniger, wenn es mit teurer Büro­kratie und Ineffizienz verbunden ist.
Die Zielvorgabe unterstellt staatlichen Stellen zudem genau die Kompetenzen, deren Fehlen sie in der Pandemie unter Beweis gestellt haben: Wie sollten Bund und Kantone unvorhersehbare Kostenschwankungen korrekt prognostizieren können, wenn sie doch nicht einmal klar absehbare Herausforderungen antizipieren? Wie sollen der in dieser Pandemie so lähmende Kantönligeist, das Silodenken und die Verantwortungsdiffusion überwunden werden, wenn wir kantons- und bereichsspezifische Zielvorgaben einführen? Das Jahr 2021 hat gezeigt, dass die Politik im Gesundheits­bereich weder gut antizipieren noch schnell auf Unerwartetes reagieren kann. Ihre lange Untätigkeit vor der Abstimmung zum Covid-Gesetz hat gezeigt, wie verheerend es sein kann, wenn politische Interessen mit Gesundheitszielen im Konflikt stehen. Der zunehmende Personalmangel zeigt überdies, dass die Gesundheitsfachpersonen Fehlsteuerungen nicht dauerhaft auffangen werden. Es braucht darum eine gewissenhafte WZW-Prüfung der Zielvorgabe im Parlament. Denn nur wenn Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit auch in der Gesetzgebung handlungsleitend sind, kann sie die medizinische Versorgung unter­stützen.