Sorgfaltspflicht bei der Verschreibung von Medikamenten

Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen

Tribüne
Ausgabe
2022/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20469
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(05):150-152

Affiliations
Dr. iur., Rechtsanwalt bei Schärer Rechtsanwälte Aarau

Publiziert am 01.02.2022

Das Bundesgericht hat einen Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, der einer Patientin ein Antibiotikum verschrieben hatte, worauf sie wegen ­einer Antibiotika-Allergie verstarb. Damit äussert sich das Bundesgericht erstmals seit langem zu den Sorgfaltspflichten bei der Verschreibung von Medikamenten durch Ärztinnen und Ärzte. Ein Blick auf das Urteil.
Lesen Sie auch den Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Iris Herzog-Zwitter auf Seite 132.
Am 11. Mai 2020 fällte das Aargauer Obergericht zwei Urteile, die sich mit den anwendbaren Sorgfaltspflichten von Ärztinnen und Ärzten resp. Apothekerinnen und Apothekern bei der Abgabe von rezeptpflichtigen Arzneimitteln auseinandersetzen [1]. Das obergerichtliche Urteil, welches eine Apothekerin wegen fahr­lässiger Tötung verurteilte, wurde nicht ans Bundes­gericht weitergezogen. Jenes gegen den Arzt zogen die Hinterbliebenen ans Bundesgericht weiter, das am 28. Oktober 2021 den Freispruch gegen den Arzt be­stätigte [2]. Der vorliegende Beitrag fasst das den Arzt betreffende Urteil zusammen und diskutiert die Begründung des Bundesgerichts.

Ausgangslage

Dem Bundesgerichtsurteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 21. Mai 2015 konsultierte die später ­verstorbene Patientin den beschuldigten Arzt, der zu diesem Zeitpunkt seit rund einem Jahr ihr Hausarzt gewesen war, in dessen Arztpraxis. Anlässlich dieser Konsultation hat der Beschuldigte das Medikament ­Cefuroxim verschrieben, das die Patientin im Anschluss an den Arztbesuch in der Apotheke der ebenfalls angeklagten Apothekerin bezog. Gleichentags ist die Patientin im Kantonsspital Aarau an den Folgen ­eines durch das Medikament ausgelösten anaphylaktischen Schocks verstorben.
Der Arzt hatte im Rahmen der Erstbehandlung im Jahr 2014 insbesondere die Frage nach einer Antibiotika-­Allergie abgeklärt, wobei die Patientin mündlich bestätigt hatte, nicht allergisch auf Antibiotika zu sein. Der Arzt hatte die Patientin in der Folge mehrfach aufgefordert, ihre vollständige Krankengeschichte beizubringen, was die Patientin aber unterlassen hatte.

Strafverfahren eröffnet

Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren und klagte den Arzt und die Apothekerin wegen fahrlässiger Tötung an. Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Anklage mit der Tatsache, dass seit Jahren bekannt gewesen sei, dass die Patientin an diversen Allergien gelitten habe, was sich aus dem Austrittsbericht eines früheren Spitalaufenthalts, zwei Notfallberichten, dem Ausweis für orale Antikoagulation und dem Eintrag im Computer der Apotheke ergebe. Der beschuldigte Arzt hätte deshalb wissen müssen, dass er ihr das Medikament Cefuroxim nicht hätte verschreiben dürfen.

Abgabesystem bei Medikamenten

Im Interesse der Arzneimittelsicherheit und des Patientenschutzes beruht das Abgabesystem im Heilmittelrecht grundsätzlich auf einem zweistufigen System von Verschreibung und Abgabe. Die Abgabe von Heilmitteln an Patientinnen und Patienten soll – abgesehen von Fällen der Selbstdispensation, der Abgabe in Notfällen und der Anwendung an der Patientin oder dem Patienten während der Behandlung – erst nach zweifacher Kontrolle durch Fachpersonen in Anwendung ihrer jeweiligen anerkannten Wissenschaften ­erfolgen [3]. Die Sorgfaltspflichten von ärztlicher Fachperson und Apothekerin resp. Apotheker sind unab­hängig voneinander zu beurteilen; entsprechend dürfen beide nicht darauf vertrauen, dass die jeweils andere Person ihre Sorgfaltspflichten vollumfänglich erfüllt hat [4].
Apothekerinnen und Apotheker haben sich grundsätzlich nach den Vorgaben der ärztlichen Verschreibung zu richten. Sie haben sich bei der re­zeptausstellenden ärztlichen Fachperson über die Richtigkeit zu ver­gewissern, wenn sie aufgrund der Umstände an der medizinischen Indikation des verschriebenen Arzneimittels zweifeln müssen [5].
Das Abgabesystem für Medikamente beruht auf einem zweistufigen System von Verschreibung und Abgabe.

Sorgfaltspflicht bei der Verschreibung

Welcher Sorgfaltsmassstab für Ärztinnen und Ärzte hinsichtlich der Verschreibung gilt, ergibt sich teilweise aus dem Gesetz und teilweise aus wissenschaftlich anerkannten Regeln der Branche. Dazu gehören unter anderem die Standesregeln der FMH [6].
Das Bundesgericht erinnerte in seiner Begründung zunächst an die im Heilmittelgesetz in Art. 26 HMG festgehaltene Sorgfaltspflicht bei der Abgabe von Arzneimitteln. Danach darf ein Arzneimittel nur verschrieben werden, wenn der Ärztin resp. dem Arzt der Gesundheitszustand der Patientin oder des Patienten bekannt ist. Praxis und Lehre folgern daraus, dass der ärztlichen Fachperson die Vitaldaten, der Gesundheitszustand, ­Allergien, Arzneimittelunverträglichkeiten sowie das Interaktionspotenzial mit anderen Wirkstoffen aus Arznei- oder Nahrungsmitteln bekannt sein müssen. Die Ärztin resp. der Arzt muss sich dazu in der erforderlichen Zeit ein Bild machen, was der Patientin oder dem Patienten fehlt und welche Therapie geeignet ist [7].
Ferner ging das Bundesgericht auf Art. 11 Abs. 3 der Standesordnung FMH ein, welcher bestimmt, dass das Patientengeheimnis auch gegenüber anderen Ärztinnen und Ärzten gilt. Eine Ausnahme besteht bei der Zusammenarbeit von mehreren ärztlichen Fachpersonen (Konsilien, Überweisung, Einweisung etc.), wo das ­Einverständnis der Patientin oder des Patienten zur Weitergabe der medizinisch erheblichen Informationen in der Regel vorausgesetzt werden darf [8].

Begründung des Freispruchs

Wie das Obergericht geht das Bundesgericht davon aus, dass der beschuldigte Arzt seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen ist. Er habe die Diagnose korrekt gestellt und ein für die Behandlung geeignetes Medikament verschrieben.
Zum Zeitpunkt der Verschreibung hatte er keine Kenntnis von den Spitalberichten, auch kannte er den Hinweis im Computer der Apotheke nicht. Der Arzt hielt es einzig für möglich, dass er im Besitz eines Marcoumarpasses bzw. des Ausweises für orale Antikoagulation gewesen sei, welcher jedoch im konkreten Fall keinen direkten Hinweis auf eine Antibiotika-Allergie enthielt. Der Arzt wusste im Verschreibungszeitpunkt lediglich, dass seine Patientin an einem polyallergischen Asthma und einer Sensibilisierung auf Pollen und Tierhaare litt [9].
Schliesslich untersuchten die Gerichte, ob der Arzt die fehlende Krankenakte ohne Einwilligung der Patientin bei ihrem früheren Hausarzt hätte einholen müssen. Das Obergericht ging davon aus, dass die Patientin von ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ­Gebrauch gemacht habe, da sie die Akten auch nach mehrfacher Aufforderung durch den Arzt diesem nicht zugänglich machte. Sie setze sich damit eigenverantwortlich einem gewissen Risiko aus, nicht optimal ­behandelt zu werden [10]. Entsprechend liege keine strafrechtlich relevante Sorgfaltspflichtverletzung des Arztes vor, was das Bundesgericht in seinem Urteil ­bestätigte.

Urteil präzisiert Abklärungspflichten

Bei der Beurteilung des massgebenden Sorgfaltsmassstabs beim Verschreiben von Arzneimitteln ist dem Urteil des Bundesgerichts zuzustimmen. Das Urteil trägt den Gegebenheiten in der Praxis Rechnung. Es streicht die Eigenverantwortung der Patienten gebührend hervor und stellt an den Hausarzt nicht überhöhte Anforderungen, die Krankenakte erhältlich zu machen, wenn ihm die betroffene Patientin diese nicht aushändigt.
Das Heilmittelgesetz verlangt, dass Ärztinnen resp. Ärzte den Gesundheitszustand ihrer Patientinnen und Patienten kennen, bevor sie ein Arzneimittel verschreiben. Welche Kenntnis vorausgesetzt wird, ist nicht abschliessend geregelt, denn die Gerichte gestehen den Fachpersonen einen erheblichen Beurteilungsspielraum zu [11]. Vollkommene Kenntnis des Gesundheitszustands kann zwar nicht verlangt werden, dennoch muss die ärztliche Fachperson im Einzelfall eine Beurteilung unter Beachtung des zu verschreibenden Medikaments, dessen Wirkungen und ihresKenntnisstands vornehmen [12].
Der vorliegende Entscheid präzisiert die Abklärungspflichten des Arztes und unterstreicht die Mitwirkungsobliegenheit der Patientin, indem er bestätigt, dass sich der Arzt auf mündliche Auskünfte seiner Patientinnen und Patienten zu Allergien verlassen darf.

Nicht zu vergessen: Aufklärungspflicht

Nicht Gegenstand des Verfahrens bildete die Aufklärung der Patientin: Die Anforderungen des Bundes­gerichts an die ärztliche Aufklärung sind sehr hoch [13]. Das Bundesgericht verlangt nicht nur die Aufklärung über die Behandlung an sich – also deren Risiken, Verlauf und Kosten –, sondern auch immer die Darstellung des Krankheitsverlaufs ohne Behandlung [14].
Nach hier vertretener Auffassung muss der Umstand, dass der Arzt nicht über die vollständige Krankenakte verfügt, in die Aufklärung der Patientin einfliessen: Kommt der Arzt wie im vorliegenden Fall zum Schluss, eine Verschreibung sei vertretbar, hat der Arzt die Pa­tientin darüber aufzuklären, dass die Verschreibung ohne Kenntnis der vollständigen Krankenakte erfolgt und sich dadurch das Risiko von unerwünschten Wirkungen erhöht. Sofern der Arzt eine Verschreibung aufgrund ungenügender Kenntnis des Gesundheits­zustands der Patientin ablehnt, hat er diese über die ­Risiken einer Nichtbehandlung aufzuklären.
Das Bundesgericht hat sich nach langem zu den Sorgfaltspflichten bei der Verschreibung von Medikamenten durch Ärztinnen und Ärzte geäussert. Der Entscheid, der die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten hervorstreicht, ist zu begrüssen. Vorsicht scheint in vergleichbaren Fällen dennoch geboten. Es ist sicherzustellen, dass Patientinnen und Patienten vollständig aufgeklärt sind, um die Haftung der behandelnden Ärztin resp. des behandelnden Arztes auszuschliessen.

Das Wichtigste in Kürze

• Das Bundesgericht bestätigt den Freispruch eines Hausarztes, der wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden war. Der Arzt hatte einer Patientin Antibiotika verschrieben, die aufgrund einer Antibiotika-Allergie nach Einnahme des Medikaments verstarb.
• Der Arzt habe seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt, da die Patientin ihm trotz Aufforderung ihre Krankenakte nicht aushändigte und mündlich eine Antibiotika-Allergie verneinte.
• Der Entscheid präzisiert die Abklärungspflichten, indem er bestätigt, dass sich ärztliche Fachpersonen auf mündliche Auskünfte von Patientinnen und Patienten zu Allergien verlassen dürfen.
• Der Autor erwähnt ergänzend die Aufklärungspflicht. Ärztinnen und Ärzte müssten in einem solchen Fall erklären, dass die Verschreibung ohne Kenntnis der Krankenakte geschehe, damit eine Haftung ausgeschlossen werden kann.
marcel.lanz[at]5001.ch
 1 OGer SST.2019.115 (Arzt); SST.2019.121 (Apothekerin), beide vom 11.5.2020.
 2 BGer 6B_727/2020 vom 28.10.2021.
 3 BGE 142 II 80, E. 2.2.
 4 BGer 6B_761/2019 vom 9.3.2020, E. 2.4 m.w.H.
 5 BGE 142 II 80, E. 2.1 f.; 140 II 520, E. 3.2.
 6 Standesregeln FMH vom 12.12.1996.
 7 BGer 6B_727/2020 vom 28.10.2021, E. 2.4.1; BGE 142 II 80, E. 2.1, 5.4; BSK-Jaisli, Art. 31 N 47.
 8 BGer 6B_727/2020 vom 28.10.2021, E. 2.4.3.
 9 BGer 6B_727/2020 vom 28.10.2021, E. 2.5.
10 OGer SST.2019.115, E. 4.2.
11 VwGer ZH VB.2014.00340 vom 23.10.2014, E. 5.3.
12 KGer NE CPEN.2013.75, E. 7.
13 BGE 133 III 121, E. 4.1.2.
14 Lanz M. Die Haftung beim medizinischen Einsatz synthetischer Nanopartikel, Diss. Freiburg/Schweiz 2019, N 606 m.w.H.