«Ich möchte Medizinabsolventen besser für den Beruf rüsten»

FMH
Ausgabe
2022/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20497
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(04):88-89

Affiliations
Freie Wissenschaftsjournalistin

Publiziert am 25.01.2022

Mit der Einführung des Lernzielkatalogs PROFILES setzt das Medizinstudium in der Schweiz auf eine kompetenzbasierte medizinische Ausbildung. Diese Entwicklung wird nun auf die medizinische Weiterbildung ausgeweitet. Olle ten Cate, Forscher auf dem Gebiet der medizinischen Ausbildung, erläutert, wie und warum die sogenannten EPAs in diesem Prozess wichtig sind.

Zur Person

Olle ten Cate studierte Medizin an der Universität Amsterdam, wo er 1978 seinen Abschluss erlangte. Anschliessend ergänzte er seinen medizinischen Ausbildungshintergrund um den Bereich Sozialwissenschaften und promovierte 1986 an der Universität Amsterdam über Peer-Teaching in der medizinischen Ausbildung. Seitdem hat er zahlreiche Publikationen zur kompetenzbasierten medizinischen Ausbildung veröffentlicht und auf diesem Gebiet eine führende Rolle übernommen. Im Jahr 1999 wurde er ordentlicher Professor für medizinische Ausbildung an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Seit 2012 ist er zudem Lehrbeauftragter für Medizin an der University of California in San Francisco.
Olle ten Cate, die kompetenzbasierte medizinische Ausbildung hat sich seit den neunziger Jahren in vielen Ländern durchgesetzt. Vor etwa 15 Jahren haben Sie das Konzept der «Entrustable Professional Activities» (EPA), auf Deutsch «anvertraubare professionelle Tätigkeiten», eingeführt. Warum war das damals notwendig?
Seit meinen beruflichen Anfängen in den achtziger Jahren verfolge ich ein einfaches Ziel: Ich möchte dafür sorgen, dass Absolventinnen und Absolventen in der Medizin besser für die Ausübung ihres Berufs gerüstet sind. Aber was genau eine gute medizinische Fachkraft ausmacht ist sehr schwer zu definieren. Viele Menschen haben sich mit dieser Frage beschäftigt und sich bei der Beschreibung auf Kompetenzen gestützt. Doch je genauer man versucht, die zu erlernenden Kompetenzen zu beschreiben, desto detaillierter und ausführlicher werden sie. Das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Es ist für die klinisch tätigen Lehrkräfte schwer, die Lernenden in Bezug auf alle relevanten Kompetenzen zu beurteilen. Für dieses Problem wollte ich Lösungen finden. So kam ich auf die Idee, die Thematik anders anzugehen. Meiner Meinung nach sollten wir weniger nach dem Wissen der Absolventinnen und Absolventen fragen als vielmehr danach, was sie in der Praxis leisten müssen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Stellen Sie sich den Tagesablauf einer Dermatologin vor, die am Montagmorgen um acht Uhr beginnt. Fragen Sie sich dazu Folgendes: Was haben Dermatologen während ihrer Arbeitszeit zu leisten? Welche Tätig­keiten, die in dieser Zeit erbracht werden, würden Sie nur einer qualifizierten Dermatologin anvertrauen? Eine qualifizierte Dermatologin muss zum Beispiel in der Lage sein, Hautläsionen zu erkennen, und mit der Pharmakologie von Behandlungen vertraut sein. Sie muss aber auch in der Lage sein, Patientinnen und Patienten zu beraten, ihnen Empfehlungen zur Sonnenbräune zu geben oder sie über ein mögliches Karzinom zu informieren. Es gibt viele Tätigkeiten, die eine ­integrierte Anwendung von Kompetenzen erfordern. Unterteilt man die dermatologische Praxis in beobachtbare Praxiseinheiten, so ergeben sich daraus die sogenannten «anvertraubaren professionellen Tätigkeiten», englisch EPAs (Entrustable Professional Activities) abgekürzt.
Darin steckt das Wort «Vertrauen». Welche Rolle spielt das Vertrauen bei der Bewertung von Lernenden, die mit EPAs arbeiten?
Vertrauen bedeutet, dass man eine Person bittet, etwas für einen zu tun – auch wenn man sie vorher noch nie bei der Ausübung dieser Tätigkeit gesehen hat. Wenn man dieses Vertrauen schenkt, macht man sich angreifbar. Aber an einem bestimmten Punkt der Ausbildung bzw. Weiterbildung muss die betreuende Person bereit sein, das Risiko des Anvertrauens einzugehen, was eben auch bedeutet, dass etwas schiefgehen kann. So gibt es beispielsweise für jede Assistenzärztin in der Chirurgie den Zeitpunkt, an dem sie einen bestimmten Eingriff erstmals ohne Aufsicht durchführen muss. In ihrer Weiterbildung hat sie diesen Eingriff vielleicht schon an 20 verschiedenen Patienten durchgeführt. Nun ist es das 21. Mal. Wenn bis hierhin genug Vertrauen aufgebaut werden konnte, sollte die Assistenzärztin diesen Eingriff nun eigenverantwortlich durchführen.
Kann dieser Vertrauensvorschuss von Vorein­genommenheit geprägt sein?
Voreingenommenheit ist der negative Aspekt von Subjektivität. Der positive Aspekt von Subjektivität ist die Tatsache, dass Expertinnen und Experten über einzigartige Kenntnisse und Erfahrungen verfügen und diese bei der Beobachtung eines oder einer Lernenden einsetzen können. Wenn wir die Meinungen mehrerer Expertinnen und Experten über einen oder eine Lernende bündeln, erhalten wir ein intersubjektives Urteil. Diese Zusammenführung von Erfahrungen trägt zu einem zuverlässigen und fundierten Urteil bei. Voreingenommenheit hingegen ist ein unerwünschtes Vorurteil, das nichts mit der eigentlichen Beobachtung zu tun hat und das es zu vermeiden gilt.
In der Schweiz arbeiten viele Fachgesellschaften an EPAs für ihre Weiterbildungsprogramme. Welchen Rat geben Sie ihnen?
Die Definition von EPAs kann die Ziele der Weiterbildung verdeutlichen und die Bewertung verbessern. Allerdings müssen die für die Programme Verantwortlichen erkennen, inwiefern die Verwendung von EPAs tatsächlich eine Verbesserung darstellt. Natürlich kostet die kompetenzbasierte Weiterbildung Energie und Zeit, weil man die Menschen begleiten muss. Zugleich wächst dabei aber das Vertrauen in die Lernenden. Und mit dem richtigen Feedback können die Lernenden auch proaktiver werden und selbst an ihrem Lehrplan arbeiten. Daher glaube ich, dass sich die Qualität der Weiterbildung durch den Einsatz von EPAs nur verbessern kann.
Einige könnten befürchten, nicht genug Zeit für die Arbeit mit EPAs zu haben.
Nun ja. Laut einer kürzlich in Kanada durchgeführten Studie erhöht sich die zeitliche Belastung pro Teilnehmerin oder Teilnehmer um 18 Minuten im Monat. Dieser Zeitaufwand ist machbar. Schliesslich gibt es ja bereits eine Menge Interaktion zwischen den Lernenden und den Betreuenden, da Letztere Erstere anleiten müssen. Man kann diese Interaktion nutzen, um ­Feedback zu geben. Dazu bedarf es keiner grösseren ­Infrastruktur. Zudem gibt es inzwischen auch sehr nütz­liche und benutzerfreundliche Apps für das Smartphone. Auf diese Weise kann das Feedback automatisch in das Portfolio der Lernenden übertragen werden. Nach meiner Ansicht geht es gar nicht so sehr darum, wie viel Zeit man hat und benötigt, sondern vielmehr um ein allgemeines Umdenken.
Was meinen Sie mit «Umdenken»?
Jedes Mal, wenn man als betreuende Person eine lernende Person beobachtet, sollte man sich fragen: Ist diese Person bereit, die Tätigkeit unbeaufsichtigt in der Praxis auszuüben? Würde ich ihr morgen meine eigenen Familienmitglieder als Patienten anvertrauen? Und wenn nicht, warum nicht? Es ist natürlich sehr einfach, einem oder einer Lernenden zu sagen: «An deiner Leistung gibt es nichts auszusetzen, also bekommst du eine gute Note.» Wenn man sich jedoch fragt, ob diese Person in der Lage ist, diese Aufgabe morgen ohne Aufsicht mit einem neuen Patienten in einer kritischen Situation zu bewältigen, wird man vielleicht eher sagen: «Mmh, vielleicht lieber noch nicht.» Die Frage des Anvertrauens ist also wichtiger als die Bewertung der Kompetenz.
Wie sieht für Sie die künftige Entwicklung der EPAs aus?
Ein wichtiger Aspekt ist, ob die EPAs auch nach Abschluss der Weiterbildung und bis zum Eintritt in den Ruhestand für die berufliche Fortbildung einsetzbar sind. Nehmen wir zum Beispiel die Physiotherapie. Physiotherapeuten dürfen in sehr unterschiedlichen Bereichen tätig sein. Sei es die Rehabilitation nach Skiunfällen, die Unterstützung von Kindern mit angeborenen Anomalien oder von Menschen mit chronischen Krankheiten, oder aber die Betreuung von Leistungssportlern und -sportlerinnen. Wenn man in einen Bereich wechseln möchte, den man schon lange nicht mehr oder noch nie ausgeübt hat, sollte man nachweisen müssen, dass man entsprechend qualifiziert ist, oder unter Aufsicht üben, um (wieder) Erfahrung zu sammeln. Die EPAs können auch zu diesem Zweck eingesetzt werden.