Projekt Opti-Q Multimorbidität

Optimierte Versorgung für multimorbide Personen

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2022/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20534
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(11):346-348

Affiliations
a MAS Health Economics and Management, Projektleiterin Opti-Q Multimorbidität, Verein QualiCCare; b BSc ZHAW Gesundheitsförderung und Prävention, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Verein QualiCCare; c Leiter Integrierte Versorgung SWICA Krankenversicherung; MSc Pharm., MPH, Vorsitz Steuergruppe Projekt Opti-Q, Vorstandsmitglied, Verein QualiCCare; d Dr. med., Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, Grindelwald, Steuergruppenmitglied Projekt Opti-Q und Vorstandsmitglied, Verein QualiCCare; e Dr. rer. nat., Fachapothekerin in Offizinpharmazie, Geschäftsführerin, Verein QualiCCare

Publiziert am 16.03.2022

Die Behandlung und Betreuung mehrfach chronisch kranker Menschen ist häufig komplex und stellt spezifische Herausforderungen an alle Beteiligten. Die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Zielvorstellungen der Patientinnen und Patienten bei der Entscheidungsfindung sowie eine koordinierte, interprofessionelle Versorgung sind zentrale Faktoren für eine hohe Versorgungsqualität.
In der Schweiz leiden derzeit 2,2 Millionen Menschen an nichtübertragbaren Krankheiten (NCDs) [1]. Im Alter werden immer mehr von ihnen multimorbid: Während ca. 11% der 50-Jährigen zwei oder mehr chronische Krankheiten haben, sind es unter den über 80-jährigen schon über 30% [2, 3]. Der Umgang mit Multimorbidität erfordert von den Patientinnen und Patienten, ihren Angehörigen, ihrem sozialen Umfeld sowie den versorgenden Fachpersonen ein hohes Mass an ­Organisation, Koordination und Kommunikation. Der Aufwand ist oft enorm hoch, und trotz grosser Anstrengungen kommt es immer wieder vor, dass Informationen fehlen, nicht weitergeleitet oder Untersuchungen doppelt gemacht werden, was nicht zuletzt die Patientinnen und Patienten gar einem gesundheitlichen Risiko aussetzen kann.

Über QualiCCare

QualiCCare ist ein interprofessioneller Verein mit dem Ziel, die patientenzentrierte, interprofessionelle und koordinierte Versorgung von chronisch und mehrfach erkrankten Menschen zu fördern und zu sichern. Mitglieder sind Verbände und Organisationen entlang des Patientenpfads, namentlich der ärztlichen und nicht-ärztlichen Leistungserbringer, Krankenver­sicherungen, Patientenorganisationen, Kantone, Pharma- und Medizinprodukteindustrie, Wissenschaft und Spezialistinnen und Spezialisten sowie e-Health- und Logistikanbieter. Die Handlungsfelder liegen im Bereich nichtübertragbarer Krankheiten in der Grundversorgung. Die Aktivitäten konzentrieren sich auf Projekte zur Umsetzung nationaler Strategien und Best-­Practice-Empfehlungen. Mehr Informationen: www.qualiccare.ch
Hier setzt das Projekt Opti-Q Multimorbidität des Vereins QualiCCare an (siehe Kasten), das zu 90% über den Fonds Prävention in der Gesundheitsversorgung (PGV) von Gesundheitsförderung Schweiz finanziert wird [4]. Dieses breitabgestützte Projekt, das von den QualiC­Care-Mitgliedsorganisationen getragen und von einer interprofessionellen Expertengruppe begleitet wird, hat zum Ziel, die im Kanton Waadt interprofessionell erarbeiteten evidenzbasierten Praxisempfehlungen [5] zur Versorgung multimorbider Patientinnen und Patienten in der Praxis umzusetzen und auf ihre Anwendbarkeit in verschiedenen ambulanten Settings zu prüfen. Haupt­fokus hierbei sind der partnerschaft­liche Einbezug der Patientin oder des Patienten in die Behandlung, eine ­gemeinsame Entscheidungsfindung sowie die interprofessionelle koordinierte Zusammenarbeit aller involvierten Fachpersonen. Aufgrund der Erfahrungen und Rückmeldungen aus der praktischen Umsetzungsphase sollen anschliessend an einer Bedarfsabklärung Empfehlungen zu IT-Hilfsmitteln und einem Finanzierungsmodell für die interprofessionelle koordinierte Versorgung von Patientinnen und Patienten mit multiplen chronischen Krankheiten ­formuliert werden.

Praxisempfehlungen Multimorbidität

Die Erarbeitung der Praxisempfehlungen Multimorbidität im Kanton Waadt [5] basiert auf internationalen Guide­lines [6–9]. Sie beschreiben die Versorgung multi­mor­bider Patientinnen und Patienten in sechs Schritten (Abb. 1). Im Zentrum stehen dabei die Patientinnen und Pa­tienten: Sie sollen als Partner in ihre Behandlung miteinbezogen werden und ihre Präferenzen und Priori­täten beim Festlegen der Versorgungsziele einbringen.
Abbildung 1: Praxisempfehlungen Multimorbidität (www.recodiab.ch/RPC_multimorbidite_20190411.pdf ).
Erarbeitet wurden die Praxisempfehlungen 2019 im Rahmen des kantonalen Diabetesprogramms des Kantons Waadt von einer interprofessionellen Arbeitsgruppe unter der Leitung des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne ­(heute: unisanté). Die Gesundheitsdirektion des Kantons Waadt ist Mitglied im Verein QualiCCare. Nach ihrer Fertigstellung wurden die Praxisempfehlungen an QualiCCare übergeben, um diese mit dem Projekt ­Opti-Q in der Praxis umzusetzen.

Einführung und Umsetzung

QualiCCare hat für die Umsetzung der Praxisempfehlungen verschiedene Interventionen vorgesehen. So wurde ein Versorgungspass für die Patientinnen und Patienten erarbeitet. Dieses Dokument enthält die wichtigsten Kontaktdaten der in die Versorgung involvierten Fachpersonen, führt die aktuellen Probleme sowie die persönlichen Erwartungen und ­Ressourcen der Patientin oder des Patienten auf. Auch ein Versorgungsplan, der die gemeinsam vereinbarten Ziele und die dafür zu ergreifenden Massnahmen festhält, und eine Zusammenstellung der Medikation sind Teil des Versorgungspasses.
Dieser Versorgungspass, welcher stets in den Händen des Patienten oder der Patientin bleibt, soll einerseits die Koordination, Zusammenarbeit und Kommunikation unter den involvierten Fachpersonen verbessern und andererseits auch die Eigenverantwortung und Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten fördern. Letztere sollten den Versorgungspass zu jeder Konsultation in der Hausarztpraxis, der Apotheke oder anderen Therapieeinrichtungen mitnehmen. Sie können sich damit auf ihre nächsten Termine vorbereiten, ihre Bedürfnisse, Ressourcen, Ziele und Probleme reflektieren und diese schriftlich darin festhalten. Für das Projekt ist der Versorgungspass papierbasiert, was die Handhabung für die heutigen Patientinnen und Patienten erleichtert, aber auch ermöglicht, den Inhalt gemäss der Praxiserfahrung bei Bedarf anzupassen und eine ideale Vorlage für eine zukünftige elektronische Form des Passes zu erhalten.
Neben diesem Versorgungspass wurde auch ein Assessment entwickelt, das in der Hausarztpraxis bei der ersten Konsultation des Patienten oder der ­Pa­tientin mit einem vorrangig bestimmten Koordinator oder einer Koordinatorin durchgegangen wird, um eine ganzheitliche Anamnese zu erhalten. Für die ­Intervention des Apothekers oder der Apothekerin ist die Erstellung eines aktuellen umfassenden Medi­ka­tionsplans vor­gesehen, wobei dessen Umfang und ­Inhalt von den Bedürfnissen und der Absprache mit den Fachpersonen der Hausarztpraxis abhängt.
Um die interprofessionelle Zusammenarbeit in der Versorgung zu stärken und zu verbessern, besuchen alle teilnehmenden Fachpersonen in der ersten Hälfte der Umsetzungsphase eine dreiteilige SGAIM- und ­SIWF-akkreditierte Fortbildung des Vereins SwissIPE (www.swissipe.ch) im Umfang von insgesamt eineinhalb Tagen.
QualiCCare hat für die Umsetzungsphase ein Kernteam aus Fachpersonen definiert, bestehend aus einer Hausärztin bzw. einem Hausarzt und einer medizinischen Praxisassistentin bzw. einem -assistenten (MPA) oder einer medizinischen Praxiskoordinatorin bzw. ­einem -koordinator (MPK) oder einer Advanced Practice Nurse (APN) sowie einer Offizinapothekerin bzw. ­einem -apotheker. Diese drei Fachpersonen sind Voraussetzung für die Teilnahme am Opti-Q-Projekt; ­weitere Fachpersonen werden nach den individuellen Versorgungsbedürfnissen der Patienten oder Patientinnen einbezogen. Die von der Hausarztpraxis ins Projekt einzuschliessenden Patientinnen und Patienten sind mindestens 18 Jahre alt und haben zwei oder mehr chronische Krankheiten aus den Diagnosegruppen nichtübertragbare Krankheiten, psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen.
Das Projekt wurde als Projekt zur Qualitätsverbesserung von der Ethikkommission Zürich als nicht ethikpflichtig beurteilt. Gesundheitsförderung Schweiz hat Interface Politikstudien mit der externe Projektevaluation beauftragt. Dafür ­erhalten die teilnehmenden Fachpersonen sowie Pa­tientinnen und Patienten jeweils zu Beginn und am Ende der zwölfmonatigen Umsetzungsphase einen ­semistrukturierten Fragebogen. Zur vertieften Evaluation sind zusätzlich ­einige Interviews und Fallbeobachtungen vorgesehen.
Die praktische Umsetzung mit den Patientinnen und Patienten startet in drei Phasen und dauert jeweils zwölf Monate. In der Deutschschweiz beginnt diese im Mai dieses Jahres, in der Romandie im Juli. Die letzte Phase startet im Oktober 2022. Die Rekrutierung der teilnehmenden Leistungserbringer für jede Umsetzungsphase beginnt jeweils drei Monate vorher.
Für den Zusatzaufwand durch die Teilnahme am Projekt wird jede Berufsvertreterin und jeder Berufsvertreter des Kernteams proportional zur Anzahl eingeschlossener Patientinnen und Patienten entschädigt.

Hausarztpraxen gesucht

Möchten Sie einen aktiven Beitrag an die Steigerung der Versorgungsqualität von mehrfach chronisch erkrankten Menschen in der Schweiz leisten? Möchten Sie Ihre Patientinnen und Patienten als Partner in die Behandlung involvieren? ­Möchten Sie die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen den (Gesundheits-)Fachpersonen verstärken, die Koordination der Versorgung Ihrer Patienten und Pa­tientinnen verbessern und gleichzeitig Ihre Prozesse in der Praxis effizienter gestalten? Dann freuen wir uns, wenn Sie sich für eine Teilnahme bei uns melden.
Weitere Auskünfte erteilt Caroline Krzywicki, Projektleiterin Opti-Q Multimorbidität:
krzywicki[at]qualiccare.ch, Tel. +41 56 552 12 02

Das Wichtigste in Kürze

• Im Projekt Opti-Q Multimorbidität von QualiCCare geht es darum, die Versorgungsqualität von multimorbiden Patientinnen und Patienten zu optimieren, indem sie partnerschaftlich in ihre Behandlung involviert werden und die interprofessionelle Zusammenarbeit unter den Fachpersonen gestärkt wird.
• Ziel ist es, die evidenzbasierten und interprofessionell erarbeiteten Praxisempfehlungen des Kantons Waadt zur Betreuung multimorbider Personen umzusetzen und die Anwendbarkeit im ambulanten Bereich zu prüfen.
• Dafür hat QualiCCare einen Versorgungspass erstellt, welcher stets in den Händen der Patientinnen und Patienten bleibt und von jeder Fachperson konsultiert und ergänzt wird. Weiterhin wird in einer Erstkonsultation in der Hausarztpraxis der Patient oder die Patientin anhand eines Assessment ganzheitlich erfasst.
• Der Verein QualiCCare sucht Hausarztpraxen, die sich am Projekt beteiligen möchten. Die Umsetzung erfolgt in drei Phasen von jeweils zwölf Monaten. Sie beginnt im Mai 2022 in der Deutschschweiz und im Juli in der Romandie.
sekretariat[at]qualiccare.ch
1 Nationale Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten [Internet]. [cited 2022 Jan 27]. Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/strategie-nicht-uebertragbare-krankheiten.html
2 Gnädinger M, Herzig L, Ceschi A, Conen D, Staehelin A, Zoller M, et al. Chronic conditions and multimorbidity in a primary care population: a study in the Swiss Sentinel Surveillance Network (Sentinella). International Journal of Public Health. 2018 Dec 1;63(9):1017–26.
3 Multimorbidität bei Personen ab 50 Jahren | OBSAN [Internet]. [cit­ed 2022 Jan 27]. Available from: https://www.obsan.admin.ch/de/publikationen/2013-multimorbiditaet-bei-personen-ab-50-jahren
4 Opti-Q Multimorbidität – Gesundheitsförderung Schweiz [Internet]. [cited 2022 Feb 3]. Available from: https://gesundheitsfoerderung.ch/pgv/gefoerderte-projekte/opti-q.html
5 Arditi C, Burnand B, Peytremann Bridevaux I. Recommandations pour la pratique clinique [Internet]. 2019 [cited 2022 Jan 27]. Avail­able from: https://www.recodiab.ch/RPC_multimorbidite.pdf
6 Multimorbidity: clinical assessment and management NICE guideline [Internet]. 2016 [cited 2022 Jan 27]. Available from: www.nice.org.uk/guidance/ng56
7 Boudon A, Riat F, Hasso Y, Lang P-O. Polymorbidité et Polypharmacie. Forum Med Suisse. 2017;17(13):306–12.
8 Multimorbidität S3-Leitlinie. 2017.
9 Ickowicz E. Guiding principles for the care of older adults with multimorbidity: An approach for clinicians: American Geriatrics Society expert panel on the care of older adults with multimorbidity. Journal of the American Geriatrics Society. 60;2012 (Blackwell Publishing Inc.).