Bericht der GUMEK über Genetic Counsellors in der Schweiz

Genetische Beratung braucht Zeit und Expertise

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2022/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20557
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(13):426-429

Affiliations
a Dr. med., MPH, amstad-kor, Basel; b Pharm. dipl. fed., MPH, Wissenschaftliche Sekretärin GUMEK, Bern; c Prof. em. Dr. phil., Präsidentin GUMEK, Bern

Publiziert am 29.03.2022

In der Schweiz nimmt die Zahl der genetischen Untersuchungen seit Jahren zu. Die Eidgenössische Kommission für genetische Untersuchungen beim Menschen ­(GUMEK) befürchtet, dass die genetische Beratung mit den vorhandenen Ressourcen nicht mehr in der erforderlichen Qualität erbracht werden kann. Sie empfiehlt, dass vermehrt «Genetic Counsellors» mit dieser Aufgabe betraut werden.
Die Relevanz der Medizinischen Genetik im klinischen Alltag hat in den letzten Jahren ständig zugenommen, und sie wird weiterwachsen. Grund dafür sind einerseits die Erweiterung der diagnostischen Möglichkeiten und andererseits die Erweiterung des Spektrums der untersuchten Pathologien sowie der prophylaktischen und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten.

Beratung ist wichtig und vorgeschrieben

Genetische Untersuchungen können weitreichende Konsequenzen bezüglich der körperlichen und psychischen Gesundheit und der Lebensplanung haben. Es ist daher wichtig, dass eine ratsuchende Person durch eine genetische Untersuchung nicht in eine Situation gerät, in die sie eigentlich gar nicht geraten wollte oder die sie nicht verkraften kann. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber in der Schweiz festgehalten, dass präsymptomatische und pränatale Untersuchungen sowie Untersuchungen zur Familienplanung zwingend von einer genetischen ­Beratung begleitet sein müssen.
Neben den Spezialistinnen und Spezialisten in Medi­zinischer Genetik sind es auch Fachärztinnen und Fachärzte anderer Fachbereiche, die sich mit genetischen Fragestellungen auseinandersetzen, genetische Untersuchungen veranlassen und somit auch für die genetische Beratung zuständig sind. Im breiten Tätigkeitsspektrum der Nicht-Genetik-Spezialistinnen und -Spezialisten bleiben genetische Fragestellungen aber weiterhin zweitrangig, und eine genetische Beratung werden sie deshalb auch in Zukunft nur gelegentlich vornehmen. Gleichzeitig stagniert die Zahl der Fachärztinnen und -ärzte für Medizinische Genetik.

Qualitätsprobleme befürchtet

Die Eidgenössische Kommission für genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMEK) sieht diese ­Situation mit Sorge. Die GUMEK ist eine ausserparlamentarische Kommission mit dem Auftrag, die wissenschaftliche und praktische Entwicklung im Bereich der genetischen Untersuchungen aufmerksam zu ­verfolgen, Empfehlungen dazu abzugeben und rechtzeitig auf Probleme und Lücken in der Gesetzgebung aufmerksam zu machen.
In anderen, namentlich in angelsächsischen Ländern wurden als Reaktion auf die beschriebene Entwicklung Fachleute eingestellt, die explizit für die ­genetische Beratung zuständig sind, sogenannte «Genetic Counsellors»; dieser Begriff wird häufig auch im Deutschen verwendet, um die entsprechende Tätigkeit klar als eigenständigen Beruf zu bezeichnen. In der Schweiz gibt es bisher nur wenige, im Ausland ausgebildete Genetic Counsellors. Dies vor ­allem in der Westschweiz.
Aus Sicht der GUMEK besteht ein grosses Potenzial in der Übernahme eines Teils der genetischen Beratung durch Genetic Counsellors. Diese Fachpersonen könnten rasch und zielgerichtet die verfügbaren Beratungskapazitäten erhöhen und die wachsende Nachfrage auffangen. Vor diesem Hintergrund hat die GUMEK ­einen Bericht in Auftrag gegeben, der eine Standort­bestimmung vorgenommen, das Berufsbild und die Ausbildung der Genetic Counsellors beschrieben und eine Roadmap skizziert hat. Der Bericht ist vor kurzem veröffentlicht worden [1].

Anzahl der genetischen Beratungen

Laboratorien, die genetische Untersuchungen durchführen, müssen seit 2008 aufgrund der Verordnung über genetische Untersuchungen am Menschen (GUMV) dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) jährlich die Anzahl durchgeführter Tests melden. Betrug diese Zahl 2008 (d.h. im ersten meldepflichtigen Jahr) noch 48 161, so stieg sie bis 2019 auf 148 452 an; die Zunahme im Zeitraum von 2008 bis 2019 betrug also rund 200%.
Aus den Daten des BAG ist nicht ersichtlich, wie hoch der Anteil an Untersuchungen ist, bei denen eine gesetzliche Beratung vorgeschrieben ist. Aus den strukturierten Interviews mit Fachleuten aus Genetik-­Instituten, Laboratorien und Kliniken lässt sich jedoch ableiten, dass mindestens ein Drittel bis maximal die Hälfte der genetischen Untersuchungen von einer ­genetischen Beratung begleitet sein müsste.
Die genetische Beratung verfügt im TARMED-System seit langem über eine eigene Tarifposition (00.0530: «Genetische u/o pränatale Beratung durch den Facharzt bei Personen über 6 Jahren und unter 75 Jahren, pro 5 Min.»). Allerdings gibt es eine Mengenbeschränkung: Die Position kann maximal 9 Mal pro Jahr abgerechnet werden. Weil die damit möglichen 45 Minuten genetischer Beratung namentlich bei komplexen Fällen sowie bei Patientinnen und Patienten unter 6 Jahren oder über 75 Jahre häufig nicht ausreichen, gibt es dafür seit 2018 zwei weitere Positionen (00.0535; 00.0536), bei denen die abrechenbare Zeit auf 90 Minuten ausgedehnt ist.
Im Datenpool der SASIS AG sind die Abrechnungen, die über TARMED laufen, fast vollständig erfasst. Demnach ­wurden 2019 rund 47 000 genetische Beratungen in Rechnung gestellt. Wenn, wie oben geschätzt, mindestens ein Drittel der genetischen Untersuchungen zwingend von einer genetischen Beratung begleitet sein müsste, so würde diese Zahl diese Vorgabe knapp erfüllen.

Geschätzter Bedarf an Fachleuten

Zumindest in der Deutschschweiz scheint im Moment praktisch niemand der befragten Fachleute Genetic Counsellors zu vermissen; die «einfache» genetische Beratung wird offensichtlich von der Mehrheit der Ärzteschaft als Teil der ärztlichen Tätigkeit wahrgenommen, und für komplexe Fälle werden die Fachärztinnen und -ärzte für Medizinische Genetik beigezogen.
In der Schweiz sind zurzeit elf Genetic Counsellors ­tätig, und zwar alle in der Westschweiz. Die meisten ­befragten Fachleute sind jedoch überzeugt, dass an­gesichts der teilweise grossen Wartezeiten der Bedarf nach zusätzlichen Beratungskapazitäten bereits heute gegeben ist und dieser für die Routinefälle am ehesten durch Genetic Counsellors zu decken wäre.
Dabei besteht Einigkeit darin, dass die Anzahl der Genetic Counsellors an jene der Fachärztinnen und -ärzte für Medizinische Genetik zu koppeln wäre; es brauche den fachlichen Austausch bzw. die Arbeit im «Tandem».
Basierend auf Angaben der European Society of Human Genetics und auf den Einschätzungen der befragten Fachleute lässt sich für die Schweiz ein Bedarf von mindestens 50 Genetic Counsellors berechnen; dies entspricht in etwa auch dem Hinweis auf das notwendige «Tandem», insofern es gemäss FMH-Statistik in der Schweiz aktuell 43 Fachärztinnen und -ärzte für Medizinische Genetik gibt.
Da absehbar ist, dass die Zahl der genetischen Untersuchungen weiter steigen wird, ist der Bedarf an Genetic Counsellors eher noch höher anzusetzen; ohne Genetic Counsellors besteht die Gefahr, dass die Qualität der «einfachen» genetischen Beratung unter einen kri­tischen Wert sinkt und dass die Wartezeit für die Be­ratung von komplexen Fällen über einen kritischen Wert hinaus zunimmt.
Genetic Counsellors sind in Genetik und in psychosozialer Kommunikation ausgebildet.

Genetic Counsellor: Ein attraktiver Beruf

Den Beruf des Genetic Counsellors gibt es grundsätzlich weltweit, wobei sich die einzelnen Länder in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden. In einigen Ländern wie z.B. den USA oder Kanada existiert der Beruf bereits seit Jahrzehnten (s. Artikel von Kelly Ormond auf S. 431) und ist als wichtiger Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen anerkannt, während er in anderen Ländern (in Asien und Afrika) erst ganz am Anfang steht. Die Kernaufgaben des Genetic Counsellors sind in allen Ländern ähnlich; zu diesen zählen ­namentlich die folgenden:
– die Durchsicht der medizinischen Unterlagen der Patientin resp. des Patienten (und der Familie);
– das Analysieren von Stammbäumen;
– die Integration von medizinischen, Labor- und genetischen Informationen;
– die Identifikation von Familienmitgliedern mit erhöhtem Erkrankungsrisiko;
– das Aufklären von Betroffenen und die Vermittlung von Informationen über grundlegende genetische Konzepte;
– das Erklären möglicher Testoptionen;
– das Erleichtern einer fundierten Entscheidungsfindung;
– die Diskussion möglicher Kosten, Risiken, Vorteile, Einschränkungen und Alternativen zum Testen;
– das Erkennen von Faktoren, die die Beratungsinteraktion beeinflussen können (psychosoziale Beurteilung).
In Europa ist der European Board of Medical Genetics (EBMG) jene Institution, die für die Definition des ­Genetic Counsellings zuständig ist. Der EBMG wurde 2012 mit dem Ziel gegründet, in der Human- und Medizinischen Genetik sowie der genetischen Beratung Standards in der Aus- und Weiterbildung sowie der Praxis zu schaffen und zu fördern, und zwar durch Entwicklung und Verwaltung von Zertifizierungssystemen und/oder Re-Zertifizierungen für Berufstätige, die als Spezialistinnen und Spezialisten in der gene­tischen Gesundheitsversorgung in Europa tätig sind; dazu gehört auch die Bezeichnung von anerkannten Lehrgängen.
Genetic Counsellor ist offensichtlich ein attraktiver ­Beruf: Er ist inhaltlich und akademisch anspruchsvoll und interessant; zudem ermöglicht er Kontakte mit Patientinnen resp. Patienten und ihren Angehörigen, und er bietet geregelte Arbeitszeiten sowie die Möglichkeit zur Teilzeitanstellung. Er eignet sich damit für Personen mit Interesse an Naturwissenschaften sowie für Menschen mit kommunikativen Fähigkeiten; am ehesten infrage dafür kommen Absolventinnen und Absolventen von Bachelorstudiengängen in Pflege, Psychologie, Biologie oder Pharmazie.

Massnahmen zur Bedarfsdeckung

Die Standortbestimmung hat gezeigt, dass das grösste Manko in der (Deutsch-)Schweiz offensichtlich in ­einem Informationsdefizit besteht: Der Beruf des Genetic Counsellors ist nicht bekannt, und deshalb besteht in weiten Kreisen auch keine Vorstellung darüber, welchen substantiellen Beitrag er zu einer qualitativ hochstehenden genetischen Beratung leisten könnte. Diese Feststellung gilt sowohl für Institutionen als auch für potenziell an diesem Beruf Interessierte.
In einem ersten Schritt braucht es also eine Informationskampagne; diese könnte unter anderem die folgenden Punkte ansprechen:
– Die Häufigkeit und die Komplexität der genetischen Untersuchungen nimmt seit Jahren kontinuierlich zu und mit ihr auch die Häufigkeit und die Komplexität der gesetzlich vorgeschriebenen genetischen Beratungen.
– Angesichts der beschränkten Zahl von Fachärztinnen und -ärzten für Medizinische Genetik ist ­absehbar, dass aufgrund dieser Entwicklung die Qualität der Beratungen mittelfristig nicht mehr gewährleistet werden kann.
– Genetic Counsellors verfügen über eine kombinierte Ausbildung in Genetik und psychosozialen Kommunikationskompetenzen; sie sind damit bestens qualifizierte Gesundheitsfachleute, die (in der Regel unter Supervision einer Fachärztin, eines Facharztes für Medizinische Genetik) wesentliche, jedoch nicht alle Teile der genetischen Beratung übernehmen und damit deren Qualität sicherstellen können.
Zusätzlich ist aber auch Überzeugungsarbeit not­wendig; diese sollte die folgende Hauptbotschaft vermitteln: «Genetische Beratung braucht Zeit und Expertise – und Genetic Counsellors haben beides.»
Da es in der Schweiz zu wenig Fachärztinnen und -ärzte für ­Medizinische Genetik gibt, verfügen diese häufig nicht über die notwendige Zeit, und gleichzeitig verfügen die übrigen Fachärztinnen und -ärzte nicht immer über die notwendige Expertise. Genetic Counsellors ergänzen also die Patientenversorgung in Bereichen, die angesichts des steigenden Beratungsbedarfs in der ­Genetik schon bald unterversorgt sein könnten – oder es jetzt schon sind.
Damit der Bedarf an Genetic Counsellors langfristig gedeckt werden kann, skizziert der Bericht in einer «Roadmap» zahlreiche Massnahmen auf unterschiedlichen Ebenen. Angesprochen sind neben der GUMEK auch Fach- und Berufsverbände, Spitäler, Hochschulen, Patientenorganisationen und die Politik bzw. die Behörden. Die GUMEK wird in nächster Zeit das Gespräch mit den zuständigen Akteuren suchen und selbst auch aktiv werden. Mit der Veröffentlichung des Berichts hat sie einen ersten Schritt getan.

Das Wichtigste in Kürze

• Während in der Schweiz die Anzahl an genetischen Untersuchungen zunimmt, stagniert die Zahl der Fachärztinnen und Fachärzte für Medizinische Genetik.
• Es besteht die Gefahr, dass die Qualität der «einfachen» genetischen Beratung sinkt und die Wartezeiten zunehmen.
• Die Eidgenössische Kommission für genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMEK) sieht deshalb grosses Potenzial in der Einführung und Etablierung des Berufs des «Genetic Counsellors».
• Sie hat einen Bericht in Auftrag gegeben, in dem das Berufsbild, die Ausbildung sowie eine «Roadmap» für die Einführung skizziert werden.
cristina.benedetti[at]bag.admin.ch
1 Amstad H. Genetic Counsellors in der Schweiz, Bericht zuhanden der Eidg. Kommission für genetische Untersuchungen beim ­Menschen. 2021, www.bag.admin.ch/gumek Rubrik Aufgaben und Tätigkeiten der Kommission